1989 Führergeburtstag

 Exposee

Magnus Dellwig: 1989  Führergeburtstag

Der Nationalsozialismus war die verbrecherische Diktatur, unter der die Welt am meisten gelitten hat. Deshalb tragen wir Deutsche bis heute besondere Verantwortung: für Frieden und Freiheit, vor allem aber für Toleranz und die Achtung der Menschenwürde als die Grundlagen von beidem.

1989 – Das nationalsozialistische Deutschland herrscht über Kontinental-Europa. Nach dem für Hitlers Armeen siegreichen Zweiten Weltkrieg ist in Teilen der ehemaligen Sowjetunion die sogenannte „birassische Gesellschaft“ entstanden. Hier leben Deutsche als die Herren über Slawen und Balten. Die Russen wurden weit nach Osten vertrieben und an ihrer Stelle Ukrainer über das Land verteilt. Anders als in Hitlers und Himmlers kühnsten Träumen bildete sich schon aus Menschenmangel in Osteuropa keine rein germanische Gesellschaft. Stattdessen entstand jene birassische Gesellschaft mit unvermeidlichen Widersprüchen, die aus dem Zusammenleben von zwei Kulturen in krasser Ungleichheit entspringen müssen.

Nach dem Krieg hatte sich Hitler für die Marktwirtschaft und gegen einen staatlichen Sozialismus entschieden. Deutschland durfte im Wettbewerb der Systeme gegenüber Amerika nicht zurückfallen. Der Demokratie wurde die Volksgemeinschaft als gesellschaftliches Ideal gegenübergestellt. Adolf Hitler verankerte damit politische Widersprüche, wie den zwischen wirtschaftlicher Freiheit und dem politischen Herrschaftsmonopol einer Partei. Ebenso standen sich der Anspruch auf das Ideal des bäuerlichen Siedlers und der faktische Vorrang der Industrie zur Behauptung der Weltmacht-Rolle Deutschlands gegenüber.

Paulusburg, das alte russische Rostow am Don, ist die Hauptstadt der vergrößerten und von Deutschen beherrschten Ukraine. Hier lebt der Historiker Rudolf Schultheiß mit seiner Familie. Der Leser erhält Einblicke in den Alltag der Menschen in Rudolf Schultheiß` Universität und in Vera Schultheiß` Fabrik bei der IG Farben. Die Schultheiß sind politisch interessierte Menschen und deshalb Mitglieder der NSDAP. Sie empfinden zugleich als zivilisierte Europäer mit humanistischen Idealen. Also wählen sie aus dem nationalsozialistischen Ideologie-Angebot die Volksgemeinschaft – und nicht den Rassismus – als Identifikationspunkt aus. Angesichts dieser selbstgefälligen Selektion entsteht das Gefühl, ihre Moral könne etwas Doppelbödiges haben. Sie hoffen, es komme eine Zeit, in der zumindest jeder „aufrechte Nationalsozialist“ frei werde sagen dürfen, was er denke.

Dieser widersprüchliche Optimismus lässt in Rudolf Schultheiß Anfang 1989 die Zivilcourage über den sozialen Anpassungsdruck siegen. Er nimmt am Geschichts-Wettbewerb der NSDAP zum 100. Geburtstag von Adolf Hitler teil.  Schultheiß` Thema ist die internationale Politik 1941 und 1942. Das ist ein brisantes Thema, hinter dem eine Unterstellung steckt: Mit dem Sieg über die Sowjetunion hätte es auch anders kommen können! – Ein ungeheurer Affront angesichts einer political correctness, die rassische Überlegenheit zur Ursache, ja sogar gesetzmäßigen Ursache des Sieges erklärt. Damit erhält dieser Sieg in jener Gesellschaft etwas von schicksalhafter Unvermeidlichkeit – ein imperiales Instrument zur Legitimation der deutschen Herrschaft.

Mit seinem Wettbewerbsbeitrag bricht Rudolf Schultheiß ein Tabu: Dass sich der Nationalsozialismus im Laufe seiner Geschichte nicht an den Wandel der Gesellschaft und der Welt angepasst habe. Rudolf schließt daraus, dass dieser Wandel nicht nur weitergehe, sondern auch reflektiert, öffentlich beleuchtet werden müsse. Dies sei notwendig, damit die Gesellschaft zukunftsfähig bleibe, auf Herausforderungen reagieren könne – einschließlich eines Wandels im Verhältnis zwischen Deutschen und Slawen.

Doch nicht nur Rudolf Schultheiß` politisches Bewusstsein ist im Umbruch begriffen. Gleiches gilt für die gesamte Gesellschaft und sogar die Partei, deren Mitglied er ist. So kommt es, dass Rudolf in Folge von Flügelkämpfen innerhalb der NSDAP für ihn völlig überraschend zum Sieger des reichsweiten Geschichtswettbewerbes wird. In Berlin lernt Rudolf Schultheiß Roderich Strasser, den Reichsleiter – und damit Chef-Organisator – der NSDAP kennen. Auf ihn konzentrieren sich die Hoffnungen der fortschrittlichen Kräfte. Ein Erlebnis wird für Rudolf die Bekanntschaft mit dem pensionierten Diplomaten Baron von Ritter. Seine Berichte bestätigen: Entgegen der landläufigen Meinung von der vermeintlich zwingenden Überlegenheit der germanischen Herrenrasse hätte es 1941 tatsächlich anders kommen können!

Rudolf Schultheiß erlebt Höhen und Tiefen seiner politischen Selbstfindung. Am Ende lehnt er ab, einen wissenschaftlichen Spitzenposten anzunehmen. Er tut das seiner Familie zu Liebe, weil er seiner Frau Recht gibt, dass er sich im politischen Gefängnis wieder finden könnte. Das ist der Preis, den ein aufrechter Mensch im national-sozialistischen Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts vielleicht zahlen muss.

Doch gibt es in „1989 Führergeburtstag“ neben der großen Politik den Alltag, der zeigt, was es für die Menschen bedeutet, in einer von vermeintlicher Harmonie verklärten Diktatur zu leben. Da sind Einkauf und Wochenendausflug, Arbeit in der Universität und Streik in der Fabrik. Da ist Rudolfs Kollege, der innerlich daran zerbrochen ist, mit seiner Forschung bei der Partei in Ungnade gefallen zu sein. Da ist vor allem Rudolfs und Veras 16-jährige Tochter Leni, die sich in einen sympathischen und intelligenten slawischen Arbeiter aus Veras Fabrik verliebt. Für die Eltern wie für die Jugendlichen keine einfache Situation. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Hier ist es der Anspruch der Eltern auf ein abstraktes humanistisches Menschenbild, dort die harte Wirklichkeit, in der sich die eigene Tochter außerhalb der eigenen Kultur stellt. – Und es gibt Parallelen zwischen den Widersprüchen einer fiktionalen birassischen Gesellschaft und unserer realen interkulturellen Gesellschaft der Gegenwart.

Die fundamentale Erfahrung des Jahres 1989 – der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa – verschafft uns einen neuen Blick auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Überrascht hat die Welt deren Wandelbarkeit und Brüchigkeit erlebt. Das verändert seitdem unseren Horizont, wie Geschichte  – und damit unser Leben – hätte anders verlaufen können. Um der persönlichen Betroffenheit von Menschen mit Hoffnungen und Ängsten, mit Gewissensbissen und bemerkenswerter Anpassungsfähigkeit Raum zu geben, ist eine Erzählung entstanden. Kein Sachbuch oder Essay hätte das zu leisten vermocht. Der Autor hält es da mit dem Didaktiker der politischen Bildung Siegfried Schiele: Lernen am Modell statt Lernen durch Appell!

Um mit Thomas Mann zu sprechen: Suchen wir nach dem „Bruder Hitler“ in den Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre, und schließlich nach dem „Bruder Hitler“ in uns selbst. Doch was heißt das? Dass sich in jedem von uns – bei dem einen seltener, dem anderen öfter – Eitelkeit, das Aufgreifen platter Lösungen für in Wahrheit schwierige Aufgaben und die Suche nach dem Sündenbock für unbequeme Tatsachen verbinden können.

Mehr Selbstkritik in Bezug auf unsere persönliche – nicht immer wahrgenommene -Verantwortung in gesellschaftlichen Dingen ist ein guter Grund, der Frage nachzugehen, ob es hätte ganz anders kommen können, und welche Anforderungen dies an unser aller Gewissen – und vor allem unser praktisches Leben und Handeln – heute stellen würde!

Das Buch:

Magnus Dellwig: 1989 Führergeburtstag

Fadenheftung, Schutzumschlag, 480 Seiten

Verlag Karl Maria Laufen, Oberhausen

ISBN: 978-3-87468-221-3

Preis: € 29,80