Warum 1989 Führergeburtstag? – Textauszug

6. Das Tor von Wembley – oder: Die Geschichte bleibt offen!

30. Juli 1966,

London,

Wembley-Stadion, 93.000 Zuschauer

Finale um die 7. Weltmeisterschaft im Fußball zwischen Gastgeber England und Deutschland.

Am Ende der regulären Spielzeit steht es 2 zu 2. Wir befinden uns in der Verlängerung. In der 100. Spielminute schießt der englische Stürmer Geoffrey Hurst auf das deutsche Tor. Der Ball prallt gegen die Latte, fällt schnurgerade nach unten auf die Torlinie und springt von dort aus in das Spielfeld zurück. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet: Tor! England führt von nun an in der Verlängerung des Finales mit 3 zu 2. Die deutsche Nationalmannschaft muss das Risiko erhöhen, die Abwehr öffnen. In der 119. Spielminute nutzt Hurst eine der sich dadurch bietenden Konterchancen und erzielt das 4 zu 2 für England. Das Spiel ist aus. England ist Weltmeister.

Kein deutscher Fußballfan – egal, ob selbst Zuschauer am Fernsehgerät während jenes denkwürdigen Finales der achten Weltmeisterschaft im Jahr 1966, oder ob Nachgeborener, der nur die Erzählung der Älteren kennt – wüsste nicht von dem Hergang um jenes dritte Tor für England in Wembley. Spieler, Fachkommentatoren und auch die ungezählte Menge von spannungsgeladenen Zuschauern vor den Bildschirmen in Deutschland waren und sind sich immer noch einig: Das dritte Tor von Wembley, das ja eigentlich gar kein Tor war – oder war es das etwa doch? – , dieses Tor hat das Finale von 1966 nahezu schicksalhaft zugunsten Englands vorentschieden. Standen die Chancen bis zur 100. Spielminute 50 zu 50, so verschoben sie sich schlagartig auf ein Verhältnis von 20 zu 80, wenn nicht sogar auf eine noch geringere Aussicht auf den Sieg für das deutsche Team. Dadurch wurde jenes letzte, vierte Tor für England nur noch die fast – natürlich nie ganz – unvermeidliche Konsequenz aus einer – vermutlichen – Fehlentscheidung des Schiedsrichters. Es handelte sich um eine Fehlentscheidung, durch die die deutsche Mannschaft derart mit dem Rücken zur Wand spielte, dass sie den Engländern von nun an die Räume zum erfolgversprechenden Konter öffnen musste, um selbst ihre allerletzte Chance auf den Ausgleich zu wahren.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen; natürlich löste das legendäre Tor vonWembley keinen Determinismus aus, keine Gesetzmäßigkeit! So wie das meist in der Geschichte ist: Strukturen prägen vor, bestimmen Wahrscheinlichkeiten, jedoch keine Zwangsläufigkeiten. Unbestreitbar behielten die deutschen Spieler einen Rest an Siegeschance, doch standen sich von nun an eben nicht mehr zwei Mannschaften gegenüber, die von einer gleichen Ausgangslage ausgehend um die Weltmeisterschaft spielten.

Jenes legendäre Tor von Wembley ist nicht nur in die Annalen der Fußballgeschichte, nein, es ist in das kollektive Bewusstsein, in die Kulturgeschichte der Deutschen eingegangen, als ein Markstein für ein ganzes Jahrzehnt: wie der Mauer-Bau oder die Kuba-Krise oder die Große Koalition. – Woher aber rührt der Erinnerungswert dieses Momentes in einem Fußballspiel? Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Kraft jener Faszination, die von der Schicksalhaftigkeit, von der Zufälligkeit eines Augenblicks mit großen Folgen ausgeht. Denn dieser Augenblick hat es in sich! Er verbindet die objektive Tatsächlichkeit eines Schusses mit einer subjektiven Zufälligkeit, nämlich derjenigen der Wahrnehmung eines einzelnen Menschen, des Schiedsrichters. Beides zusammen hat die Entscheidung über 120 Minuten Fußball, über die Weltmeisterschaft herbeigeführt. – Beides zusammen, das Zusammenspiel von Subjekt und Objekt, ist ein fundamentales Grundgesetz unseres Lebens.

Doch was bedeutet das Tor von Wembley für das Verhältnis der Menschen zur Wahrnehmung der Welt um sie herum? Auf einen einfachen Nenner gebracht sagt uns das Tor von Wembley eine elementare Erkenntnis menschlichen Handelns und Erduldens: Die Geschichte ist und bleibt offen! Denn schließlich glauben wir alle, dass es hätte ganz anders kommen können, wenn doch nur der Schweizer Schiedsrichter Dienst jenes Tor nicht gegeben hätte, wenn die deutsche Nationalmannschaft doch nur weiter unter gleichen Bedingungen wie die Engländer die zweiten zwanzig Minuten der Verlängerung hätte spielen können, hätte spielen dürfen. Damit hätte die Chance doch zumindest fifty-fifty gestanden, wer am Ende Weltmeister geworden wäre. Aus diesem und nur aus diesem Grunde: der als Ungerechtigkeit empfundenen Beurteilung eines einzigen Augenblicks, durch einen einzigen Menschen, kennen die deutschen Fußballfans das dritte Tor von Wembley so in und auswendig, viel besser als etwa das Tor zum 2 zu 1, mit dem Deutschland 1974 Weltmeister wurde. Es ist die Faszination der Schicksalhaftigkeit des Augenblicks, von der eine Weichenstellung für die Folgezeit ausgeht. Es handelte sich dabei um eine Weichenstellung von solch enormer Kraft, dass auch ein Kollektiv – denn das sind elf junge Männer auf einem Rasen immerhin auch, dass ein solches Kollektiv, das sich energisch gegen die Entwicklung stemmt, den Gang der Dinge in diesem Fall wie so oft im Leben – aber selbstverständlich nicht schicksalhaft und unweigerlich – nicht mehr aufhalten, nicht mehr wenden kann!

Das Tor von Wembley ist aber nur das offensichtlichste Beispiel für jene Faszination eines Augenblicks, die Generationen nicht mehr lös lässt. Der Zufall als geschichtsmächtiger Faktor ist vielleicht nirgends im kollektiven Bewusstsein der Deutschen mehr Allgemeingut als bei der Erinnerung an das Finale von Wembley. Doch das Tor von Wembley verweist auf eine weit darüber hinaus greifende Erfahrung. Die Erkenntnis daraus lautet: Die Geschichte – unbeschadet dessen, dass sie von Strukturen geprägt ist, die über dem Einfluss des handelnden Individuums rangieren – bleibt im entscheidenden Moment offen! Es gibt im historischen Prozess an unzähligen Weggabelungen immer wieder die Option für eine von zwei Alternativen. Doch nur eine unzählige Kombination solcher Entscheidungen hat die Welt von heute, die Welt, in der wir leben, möglich gemacht, zu dem werden lassen, was unsere reale Umwelt ausmacht.

Angesichts dieser fundamentalen Einsicht stellt es kein absurdes Gedankenspiel dar, der eigenen Phantasie einmal freien Lauf zu lassen. Wir wollen nun an einer wichtigen Weggabelung der Weltgeschichte – an einer folgenschwereren Stelle als einem Weltmeisterschaftsfinale – in Gedanken den Pfad verlassen, welcher nur vermeintlich so zwangsläufig auf die Welt von heute hinzuführen scheint.

Greifen wir aber eine jener fundamentalen Weggabelungen der Weltgeschichte heraus, von denen tatsächlich das Schicksal der Menschheit abhing, so wird uns vielleicht bewusst, wie wenig selbstverständlich wir über all das denken sollten, was kaum noch hinterfragt unser moralisches und politisches Urteilen ausmacht:Es waren viele langfristige Entwicklungsprozesse, aber es waren eben auch viele, viele Zufälle, Einzelentscheidungen, die aus der Vergangenheit heraus heute über Gut und Böse im gesellschaftlichen Handeln der Menschen entscheiden. – Letztlich soll das Gedankenspiel, das historische Szenario nichts anderes, nicht weniger bewirken als uns klar zu machen, wie wenig es berechtigt ist, selbstherrlich auf einem hohen Ross zu sitzen. Es sind die Errungenschaften der Zivilisation, der Moderne, die unsere Vorstellungen von, unsere Ansprüche an Moral und Humanität prägen – doch jene Errungenschaften sind nicht Spiegelbild unserer Leistungen! Denn die Welt von heute ist keinesfalls das Verdienst der Lebenden, sie ist sogar nur zum kleineren Teil das Verdienst oder das Versagen einzelner, selbst der einflussreichsten unserer Ahnen. Zu den seltenen Fällen allerdings, in welchen Einzelne entscheidenden Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen können, zählt der Krieg. Hier kann ein Feldherr über Wohl und Wehe nicht nur seiner Armee, sondern der Zukunft seines Volkes entscheiden; und zwar ebenso durch die Dinge, die er tut, wie durch diejenigen, die er unterlässt. Dies gilt sicherlich für wenige in so dramatischer Weise wie für den Diktator des nationalsozialistischen Deutschlands! Mit dem Beginn eines Angriffskrieges ließ Hitler sich 1939 auf ein riskantes Unterfangen ein. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 unter den obwaltenden Rahmenbedingungen und Praktiken einer barbarischen Kriegsführung stürzte Hitler erst Ost- und dann Mitteleuropa in eine beispiellose Spirale der Gewalt und des Elends. Zugleich schuf er selbst dadurch die Voraussetzung für seinen eigenen Untergang und damit für die Demokratisierung des Kontinents seit 1945. Somit kann kein Zweifel daran bestehen, dass gerade jene Ereignisse aus den Jahren 1939 bis 1945, vor allem aber des Jahres 1941, unsere Gegenwart stärker bestimmen als nahezu alles andere, was sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ereignet hat.

Worum geht es also bei dem Buch, das sie soeben aufgeschlagen haben? Vor Ihnen wird das fiktive Szenario einer nationalsozialistischen Ordnung im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts ausgebreitet. Geht es darum, so etwas wie einen Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz zu formulieren? Um den Totalitarimus erneut diskutieren zu können? – Allein die Begrifflichkeiten rufen Abwehr, mehr als das, sie rufen Ekel hervor! – Oder soll in faschistoider Absicht suggeriert werden: So schlimm wäre doch alles gar nicht gekommen, falls Hitler den Krieg gewonnen hätte. Denn die normative Kraft des Faktischen, die Sachzwänge hätten ihn schon wieder auf einen politischen Kurs gebracht, der Raum für Rationalität und für ein Minimum an Humanität geboten hätte?

Nein, all das ist es nicht; all das darf nicht die Intention eines history fiction über ein nationalsozialistisches Europa sein! Es geht darum, die Bedingungen für das Handeln eines ganz konkreten Menschen in ebenso vorstellbaren Lebenssituationen zu bedenken und zu begreifen. Worin besteht der Anspruch eines zivilisierten und intelligenten Menschen in einer modernen Gesellschaft? Er strebt danach, moralisch zu handeln und sich zugleich systemkonform zu verhalten – denn schließlich ist der Mensch ein soziales Wesen; er strebt nicht danach, sich durch Außenseitertum zu isolieren. In der Fiktion einer nationalsozialistischen Gesellschaft hat dieser so abstrakt- normale Anspruch an das eigene Lebensglück jedoch erschreckend konkrete Folgen: In der Person unseres Helden wird eine schier unerträgliche Spannung zwischen politischen Idealen von einer solidarischen Gemeinschaft und einem humanistischen Menschenbild auf der einen Seite, der Realität einer auf Ungleichheit beruhenden rassistischen Gesellschaft auf der anderen Seite begründet.Einen Ausweg findet unser Held, obgleich überzeugter Vertreter eines sozial-utopischen Nationalsozialismus, einzig und allein in der Vision von einer multikulturellen, toleranten Gesellschaft. – Erweitern wir unseren Horizont, so könnte es natürlich auch lauten, dass unser Held sein humanistisches Menschenbild nicht in einer rassistischen, sondern auch jeder anderen totalitären, stattssozialistischen Gesellschaft zu behalten trachtet, in dem er einen Ausweg konstruiert, der in einer offenen, pluralistischen, demokratischen Gesellschaft besteht.

Kehren wir zurück zu der Ausgangsfrage: Haben ein Minimum an Humanität und Rationalität überhaupt etwas zu suchen in der Fiktion von einer nationalozialistischen Gesellschaft, die den Zweiten Weltkrieg überdauert hätte? Spätestens auf den zweiten Blick wird es einleuchten, dennoch zumindest die Rationalität als Kategorie des Handelns einzuführen. – Der entscheidende Grund dafür besteht in der Notwendigkeit, das historische Szenario einer nationalsozialistischen Gesellschaft, die das Jahr 1989 noch erreicht hätte, überhaupt denkbar zu machen. Es geht ganz simpel zunächst um eine plausible Entwicklung, so dass jener nationalsozialistische Staat die Welt nicht bereits in den vierziger Jahren in den atomaren Abgrund gerissen hätte – oder auch von der Atombombe Amerikas selbst in diesen gestoßen worden wäre.

Der Zweck dieses Buches, auf den einfachsten, aber auch den wichtgsten Nenner gebracht, ist es, Geschichte als Prozess mit allen daraus erwachsenden Folgen offen zu legen: Weil es auch hätte ganz anders kommen können, kann es auch wieder ganz anders – viel schlechter – kommen, als wir uns die eigene Zukunft und die Zukunft unserer Kinder wünschen! Daher lautet die praktische Folge, die zugleich die Botschaft dieses Buches ist: Nicht Moralisieren, nicht Tabuisieren, nicht die Komplexität der realen Welt in die wenigen, einfachen Schubladen stecken, aus denen das Arsenal unserer Vorurteile besteht! Statt dessen gilt es moralische Verantwortung zu üben, den kritischen Streit der Meinungen als Weg zum politischen Fortschritt zu beschreiten – und vor allem als den Weg zur Toleranz. Die Toleranz ist die Voraussetzung für die offene Debatte und zugleich ihr Ergebnis, in Gestalt der zur Selbstkritik fähigen Gesellschaft: Toleranz als die Fähigkeit und als der gute Wille, in der sachlichen Auseinandersetzung das Gegenüber als Gleichberechtigten, als in seinen Einstellungen und Überzeugungen gleich plausibles Produkt unseres Gemeinwesens anzunehmen. Toleranz ist die Basis der pluralistischen Gesellschaft, in der jeder – um es mit Friedrich dem Großen zu sagen – nach seiner Fasson glücklich werden darf! Nun möchte ich gar nicht bestreiten, dass diese, meine Überzeugung auch etwas mit moralischen Ansprüchen zu tun hat. Doch ich möchte zugleich einen deutlichen Trennungsstrich ziehen zu einem Moralisieren, dass sich weniger über positive Ziele definiert als vielmehr über die Anklage anderer. Da möchte ich es mit dem Historiker Uwe Backes halten: „Wer dem politischen Gegner leichtfertig ausgrenzende Etiketten aufklebt, unterhölt den Minimalkonsens der pluralistischen Gesellschaft.

Weil der Autor, ein Historiker und Sozialwissenschaftler, zutiefst davon überzeugt ist, dass diese Kultur der verantwortungsbewussten Sachlichkeit gerade im Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus (noch) nicht hinreichend vorherrscht, hält er dieses Buch für wichtig, für notwendig! Nur ein Beispiel: Wie sollen wir den Jugendlichen im Osten Deutschlands vermitteln, dass die Demokratie die humane, die soziale, die weltoffene, die moralisch wie intellektuell überlegene Alternative zu neonazistischen Verheißungen ist, wenn in der öffentlichen Debatte um ein Verbot der NPD seit dem Jahr 2000 zugleich gefordert wurde, den Rechtsextremismus zu tabuisieren. – Das geschah bis hin zum PDS-Polit-Profi Gregor Gysi!

Solange eine Gesellschaft ein bedeutendes politisches Phänomen durch Tabuisierung zu beseitigen trachtet, solange ist sie noch nicht so weit, als im Innersten gefestigte demokratische Gesellschaft gelten zu dürfen. Denn schließlich nehmen die politischenEliten einer Gesellschaft ihre Bürger immer dann nicht vollständig ernst, wenn sie zum Totschlag-Argument von Tabus greifen. Das bedeutet aber zugleich, dass die politschen Profis meinen, sie dürften die Bürger nicht mit vielschichtigen Argumenten konfrontieren – besser gesagt: überfordern -, weil sie diese Bürger eben nicht überzeugen könnten, sondern manchen Falls besser ruhig stellen sollten. – Der Geist der Aufklärung ist nach der Überzeugung des Autors die beste, die einzige, die strukturelle Gewähr für eine stabile, humanistische, eine demokratische und pluralistische Gesellschaft. Weil aber Geschichte dazu da ist uns zu erklären, wie und warum unsere Welt so geworden ist wie sie nun einmal heute vor uns steht, haben wirmanchmal auch eine aufklärerische Verpflichtung:

Wir tun gut daran, an unserer Geschichte reflektierend mitzuschreiben, weil uns dies das Selbstbewusstsein gibt, als mündige Bürger unbedingt zugleich streitbare Demokraten zu sein. Doch Geschichte schreiben lässt uns zugleich in der nötigen Demut zurück, die erreichte Zivilisationsstufe als Geschenk zu begreifen, statt sie zur Anklage gegen diejenigen zu nutzen, die es wo anders auf unserem Globus heute, oder auch nur hier und in der Vergangenheit, schwerer hatten, Zivilcourage im Dienste der Menschlichkeit zu beweisen. Um eine solche Geschichte zu schreiben, die ein wenig Identität stiftet und vielleicht sogar ein wenig Orientierung für die Herausforderungen der Gegenwart gibt, ist dieses Buch geschrieben worden – anstatt in der Schublade zu landen oder im Hinterkopf stecken zu bleiben, weil es nicht so ganz zum Zeitgeist passen mag.