10. Kapitel: Veras Fabrik
Donnerstag, 30. März 1989
Heute Morgen den Antrag Korrektur gelesen; Frau Mende auch noch mal drüber lesen lassen – nur so zur Sicherheit, obwohl auch sie schon beim Formatieren auf Fehler geachtet hat. Etwas mulmig war mir dann, als alles geschafft war. Aber auch ein richtig gutes Gefühl, den Schwanz nicht einzukneifen.
Als ich nach Hause kam, musste ich an Veras Arbeit denken. Vera saß nur da. Geschafft, fertig war sie. Aber dann fing sie an zu erzählen und da kehrte das Leuchten in ihre Augen zurück. Denkwürdiger Tag, sagte sie, vielleicht der denkwürdigste solange es das Werk III der IG überhaupt schon gibt.
Meine Gedanken schweiften ab: Drittes Reichssiedlungsprogramm 1969 – Aufbau der Petrochemie und der Textilindustrie in der Ukraine, erster Vierjahresplan seit 1936, 1943 und 1947. Die Globalisierung verursachte Kostendruck. Jetzt sollten die Produktionskostenvorteile des Ostens mit seiner billigen Arbeitskraft zum ersten Mal so richtig systematisch genutzt werden: durch den hierarchischen Aufbau von Fertigungsstufen im Reich, vom Ruhrgebiet bis zum Ural. Die Grundstoffindustrien Textil und Chemie waren für die Ukraine vorgesehen, mit ihren Rohstoffen Kohle, Baumwolle und dem Öl aus dem Kaukasus. Die Textilien bildeten den Einstieg in die Weiterverarbeitung: erst Färbung, heute dann Hochtechnolgie jeder Art wie in Krefeldoder Leipzig. Da sieht man wieder; fei nach Marx: Das Sein und die Wirtschaft, nicht die Rasse, bestimmen das Bewusstsein!
Vier Minuten zur Bushaltestelle. Vera verlässt das Haus und geht in zügigem Schritt über zwei Straßenecken durch das Wohngebiet mit kleinen Straßen und noch kleineren Vorgärten, die von deutscher Ordnung nur so strotzen. Fein gezirkelte Heckenschnitte wechseln sich mit Blumenbeeten in Kieselsteinumsäumung und Bäumchen ab. – Die Gartenzwerge stehen bestimmt hinter dem Haus! schmunzelt Vera.
Sie erreicht die Haltestelle; nach einer Minute Wartezeit kommt der Bus und nimmt sie mit zur Hauptverkehrsstraße, die in einem Kilometer Entfernung parallel zum Fluss zwischen Bismarck und der Innenstadt verläuft. Dort an der Barbarossastraße kreuzen sich die Straßenbahn und drei Buslinien der Paulusburger Stadtwerke AG, die den gesamten Stadtteil Bismarck in Schlangenlinien erschließen. Hier steigt Vera nach drei Minuten um. Die Straßenbahn ist um diese Zeit nur mäßig gefüllt. Zwar beginnt für die meisten Angestellten der Arbeitstag um acht Uhr, aber die Schüler fahren eine Viertelstunde später und die Arbeiter wiederum viel früher. Denn in nahezu allen Betrieben der Industriezone herrscht zwei- oder gar drei-Schicht-Betrieb.
So kommt es, dass Vera und die meisten deutschen oder die anderen germanischen Angestellten auf dem Weg zur Arbeit mit dem Strom der slawischen Arbeiterinnen und Arbeiter überhaupt nicht in Berührung kommen. Daran muss Vera denken, als sich zwei ihr gegenüber sitzende Arbeiterinnen in einem Gemisch aus Ukrainisch und deutschen Wortfetzen unterhalten. Für die kaufmännischen Angestellten gibt es gar keinen täglichen Umgang mit slawischen Arbeitern. Das ist nur für uns Sozialklempner und natürlich für die technischen Angestellten, Ingenieure und Techniker anders. Das macht die Rassentrennung zur nicht mehr hinterfragten, zur oft nicht mal mehr bewußten Selbstverständlichkeit. Benutzen der slawischen Arbeitskraft ja, geistige Auseinandersetzung mit dem Zusammenleben der Rassen auf engstem Raum, nein!
So ist für viele diese Bikultur gar kein Thema! Das sehe ich ja ständig an unseren Nachbarn. Die regen sich über slawische Verkäuferinnen oder Kunden auf, denen sie ja nur beim Einkauf begegnen. Hätten die täglich mit den ukrainischen Arbeiterinnen zu tun, würden Sie sich nicht mehr so wundern! Diese subtile Praxis, dass die Begegnung zwischen den Kulturen immer noch ein seltenes Ereignis ist, das immer noch Aufmerksamkeit genießt! Ja dadurch wird die Mehrzahl unserer Volksgenossen sich ihrer viel gepriesenen Überlegenheit in regelmäßigen Abständen bewusst. Das stabilisiert unsere Gesellschaft! Der Himmler wusste ganz genau, was er tat. Er war ein Barbar, aber blöd war er nicht!
Vera macht es sich auf dem Sitzplatz einigermaßen bequem und sieht aus dem Fenster in den dunklen Morgen. Um das elektrische Licht der Straßenlaternen und der beleuchteten Wohnungsfenster dämmert ganz allmählich der Morgen. Sie zieht einen Roman aus der Tasche: Judith Brandt, Ein Sommer in Tokio. Vera hat 23 Minuten Zeit, bis die Tram ihre Fabrik im Industriegebiet nördlich der Innenstadt erreicht, dort am Grüngürtel, wo meist fünf- bis achtstöckigen Mehrfamilienhäusern stehen. Vier Kilometer vom Bahnhof entfernt, bilden die Werke der IG Farben den Mittelpunkt des Industrieparks Carl-Duisberg. Die ersten Schornsteine und hoch in den noch morgendlich düsteren Himmel ragende Groß-Armaturen der Chemieindustrie tauchen am Horizont auf.
Im Süden liegt der ältere Teil des Gewerbegebietes, die seit 1946 errichteten Fabriken zur Verarbeitung von Baumwolle und Schurwolle aus dem gesamten Reichskommissariat. Die Carl-Duisberg-Werke II und III, ebenfalls Textilfabriken, folgten 1959 und 1971, auf halber Strecke zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Bismarck nach. Die größte und neueste der Fabriken beherbegt nicht nur die neueste Generation von elektronischen Maschinen zur Rohwollebearbeitung und von computergestützten Webstühlen. Im Werk III nehmen die Verarbeitungsstufen Bleichen, Färben und Imprägnieren auch einen weit größeren Raum ein. Hier wird neben Massengut auch höherwertige Oberbekleidung hergestellt. Diese Hochtechnologie der Textilproduktion in Paulusburg ist seit den siebziger Jahren kontinuierlich ausgebaut worden, so dass heute fast 15 % der Kleidung des Großgermanischen Reiches aus Paulusburg stammen.
Die Straßenbahn erreicht um 7 Uhr 45 den nördlichen Teil des Industrieparks, in dem sich Raffinerie, Kohleverflüssigung und Fischer-Tropsch-Fabrik zur Herstellung synthetischen Benzins befinden. Dazu hat die IG Farben seit Beginn der achtziger Jahre ein Farbenwerk und eine Düngemittelfabrik gebaut. Vera sieht auf. Die Silos der Farbenfabrik, in der auch die Chemikalien zur Textilienverarbeitung produziert werden, ziehen auf der linken Straßenseite an ihr vorbei. Alles, was Wasser zur Kühlung oder Produktion braucht, und die chemischen Betriebe, die Becken mit Löschwasser vorhalten müssen, liegen östlich der Barbarossastraße hinunter zum Don.
Vera liest die Seite zu Ende, klappt das Buch zu und steckt es in ihre Tasche. Gerade verläßt die Straßenbahn die Haltestelle Carl-Duisberg Werk I. An der Straße stehen zwei Plakatwände mit Werbung: für den neuen Mercedes und Hautcreme von Beiersdorff. Das Beuersdorff-Werk von Paulusburg liegt links der Straße; dort werden Vorprodukte aus tierischen und pflanzlichen Fetten für die Endfertigung in Hamburg hergestellt. Vera steht auf und schwankt mit dem Fahrtrhythmus der Straßenbahn zur Tür. „Halt Carl-Duisberg Werk III“ blinkt über der Fahrerkabine in Leuchtschrift auf und die Bahn steht. Vera steigt aus und eilt durch leichten Nieselregen die fünfzig Meter lange Fabrikmauer entlang bis zum Werkstor 2. Von hier aus gelangt sie über einen kleinen Hof, an Grünflächen, der Werksfeuerwehr und dem betriebsärztlichen Dienst vorbei zur Hauptverwaltung C.
Vera hat im vierten Stockwerk ihr Büro. Sie gehört zur Abteilung `Betriebspsychologie und Soziale Dienste‘. Neben ihr arbeiten hier drei Sozialpsychologen und fünf Sozialarbeiter. Das ist im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft von rund 8.000 Beschäftigten – so viel wie die Werke I und II zusammen – im Vergleich zu anderen Fabriken des Ostens eine gute Besetzung. Während Vera auf dem Flur ihrer Abteilung an Türschildern vorbei zu ihrem Büro schlendert, sinniert sie. Endlich wieder alle Planstellen besetzt: Ein Abteilungsleiter, drei weitere Sozialpsychologen, fünf Sozialarbeiter. Jetzt haben die Technokraten, Ingenieure und Betriebswirte in der Betriebsleitung, nach langem Hick-hack ein Einsehen gehabt.
Aber ich glaube, vorher musste erst etwas schief gehen. Die Querelen in den Kolonnen der Halle 13 – Färbung der Wolle mit Grundfarbe und anschließendes Nachfärben mit Spezieltönen – hatten die Produktivität gesenkt – mehr als das, es gab tatsächlich zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder richtige Produktionsstillstände. Die einzige Erklärung dafür war das Bummeln der Ukrainer; Dienst nach Vorschrift! Da, als die ökonomische Vernunft eine Reaktion erzwang, ging alles auf einmal ganz schnell. Ich frage mich, wo die Unternehmenskultur bleibt, von der immer so viel geschwafelt wird! Auf jeden Fall müssen wir dahin kommen, dass die Zusammenarbeit von deutschen Technikern, Meistern und Vorarbeitern mit ihren slawischen Arbeitern, Arbeiterinnen und den wenigen slawischen Vorarbeitern besser läuft. Dafür sind ja gerade wir Sozialen da.
Auf dem schwarzen Brett, an dem Vera vorbei kommt, steht: Kurzbesprechung Donnerstag 9 Uhr, Abteilungsbesprechungszimmer. Sie fragt sich, was das denn soll, besinnt sich aber sofort wieder auf die Vorgänge auf ihrem Schreibtisch. Dort verbringt sie die nächste Stunde. Personalakten hat sie da liegen, von Mitarbeitern, die in die Sprechstunde des Sozialen Dienstes gekommen sind. Da sind Männer mit Alkoholproblemen, Schulden, mit Beschwerden über Vorgesetzte. Da kommen Frauen mit Familienproblemen, weil sie der Dreifachbelastung Beruf, Familie, Subsistenzlandwirtschaft nicht mehr gewachsen sind, Frauen mit Akzeptanzschwierigkeiten in der Arbeitsgruppe, auch wegen sexueller Belästigungen. Seltener sind die Fälle, in denen der Soziale Dienst von der Werksleitung auf einzelne Personen aufmerksam gemacht wird. Solche Mitarbeiter sind dann oft die schwereren Fälle, bei denen Disziplinlosigkeit und unzureichende Arbeitsleistungen zusammen kommen.
Zwischendurch steckt immer mal wieder ein Kollege den Kopf durch Veras Bürotür und begrüßt sie; der eine oder die andere bleibt für einen Satz stehen.
„Schönen Feierabend gehabt gestern? Was macht Leni, kommt sie uns mal wieder besuchen?“Auch Dienstliches ist dabei:“Kennst du den und den? Über den hat sich bei mir der und der beschwert. Die Arbeitsgruppe ist aber auch verdammt schwierig!Hast du ne Ahnung, warum wir uns um 9 Uhr treffen? Naja, der Heinz wird schon einen triftigen Grund haben für so eine spontan angesetzte Besprechung!“
Um eine Minute vor 9 guckt Heinz Körner durch Veras offen stehende Bürotür und kommt hinein. Vera und Körner kennen sich jetzt fast 18 Jahre,seitdem sie mit Rudolf nach Paulusburg kam und gleich bei der IG Farben als Sozialpsychologin anfing. Heinz ist 51, vier Jahre älter als Vera und ihr Abteilungsleiter, sie seit Jahren seine Stellvertreterin. Körner, introvertierter Typ, musste sich zu Anfang in Paulusburg – er kam zwei Jahre vor Vera hierher – für bestimmte Gelegenheiten erst ein energisches Auftreten angewöhnen.Noch heute dosiert er das spärlich. Er ist keiner, der seinen Job als Sozialduselei begreift, sondern als Hilfe am Menschen, die unterm Strich auch dem Werk und der Volksgemeinschaft zugute kommt.
Vera und Heinz liegen auf einer Wellenlänge. Sie sehen in ihrem Beruf eine der direktesten Formen von gelebtem Nationalsozialismus, möglichst ohne viel Pathos und die üblichen Floskeln von DAF-Funktionären über die Natur gegebenen Unterschiede in der Arbeitsleistung der Rassen. Beide haben ein kollegiales, mehr als das, ein freundschaftliches Verhältnis. In größeren Abständen treffen sich die Ehepaare privat. Vera ist dann immer peinlich darauf bedacht, dass ja nicht zuviel über die Fabrik geredet wird, obgleich Rudolf das meistens interessiert. Für Helene, Heinz Frau, gilt das weniger!
Ohne ein Wort zu sagen schließt er die Türe. Heinz Körner passt dabei auf, kein lautes Geräusch zu verursachen. Vera sieht ihm interessiert zu. Heinz ist gut einen Meter achtzig groß, stämmig, aber ohne Bauchansatz. Sein markantes Kinn, die hohe Stirn und offene blaue Augen beherrschen sein Gesicht. Als er sich zu ihr umdreht und auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz nimmt, sagt sie:
„Na, du Geheimniskrämer! Es muss schon was passieren, damit du so mir nichts, dir nichts eine Besprechung ansetzt, und dich dann auch noch vorher in mein Büro herein schleichst!“
11. Kapitel: Arbeitskampf
Donnerstag, 30. März 1989
… Mit ihrem obersten Chef hat sie heute zu tun gehabt und zum Schluss verlangt, er solle sich zum Ziel bekennen, langfristig eine Gemeinschaft mit den Slawen zu begründen. Erst wenn keine verletzende, unsichtbare Trennlinie zwischen Ukrainern und Deutschen mehr durch das Werk laufe, seien soziale Stabilität, aber auch internationale Wettbewerbsfähigkeit auf Dauer zu sichern. Mut hat die Frau!
Mit Vera habe ich dann beim Kaffeetrinken ein wenig gesponnen: 50, Hundert Jahre weiter müssen wir denken. – Im Osten leben dann genau so viele Deutsche wie Ukrainer.- Die Kulturen haben sich angenähert und ziehen aus der jeweils anderen das beste heraus, ohne sich aufzugeben. – Dabei gibt es immer eine ukrainische Minderheit, die sich voll assimilieren will.Dann hat Vera gelacht: Zu so was ist Reker gar nicht fähig.
Körner lächelt Vera an. Er sieht ein wenig verlegen aus. Das macht Vera neugierig.
„Gestern ist eine große Scheiße passiert! Ich wollte, dass du es vor den andern weißund mich gleich ein bißchen unterstützt. Wir müssen alle mitziehen; heute muss alles stehen und liegen bleiben. In der Pause nach zehn gehen wir dann zur Halle C 5, da wo die neuen elektronisch gesteuerten Färbemaschinen stehen. Gestern in der Spätschicht hat es geknallt. Erst eine Gruppe, dann alle sechs! Die haben sich in die Haare gekriegt über die neuen Leistungsnormen, dann sind sie zur Betriebsleitung marschiert und haben gesagt: Für heute läuft hier nichts mehr!
Ich wollte gestern um kurz vor sechs gerade gehen, da ruft mich Dr. Reker an. Das erste Mal, dass ich in zwanzig Jahren mehr als Guten Tag mit ihm gewechselt habe.Da kannst Du sehen, denen in der Direktion ist der Arsch auf Grundeis gegangen! Und was ist die Folge? Jetzt sind wir dran!
„Reker! durchzuckt es Vera. Aalglatter Manager, Direktor aller Fabriken der IG Farbenin Paulusburg, Mitglieds des Konzern-Vorstands in Frankfurt, einer der mächtigsten Unternehmer der Ukraine. In ihrer Abteilung hat Reker keinen guten Ruf. Kein Wunder! Die Amis würden sagen: Shareholder-value-Fetischist. Reker, der definiert Innovation als permanente Umstrukturierung: mehr Leistungsdruck und flache Hierarchien, und das vom grünen Tisch aus. Unsere Meinung hat den noch nie interessiert. Ich habe seit langem den Eindruck, dass wir hier als Soziale gegen einen Systemfehler ankämpfen – einen Systemfehler in den Köpfen dieser Schreibtischstrategen! Für die ist jeder auf Karriere aus, motiviert, leistungswillig, sogar jeder Slawe – wie absurd, bei den beschissenen Aufstiegschancen! Und vor allem gibt es nach deren Vorstellung keinen Kollegen, der lethargisch oder eben ein bischen einfältig wäre. Deshalb gebe es ja keine wirklichen sozialen, gruppendynamischen Probleme, die der Rede wert wären! Und jetzt haben wir den Schlamassel!
„Heinz, bei allem Stress, der jetzt auf unsere Abteilung zukommt, das ist eine Chance! Vielleicht gelingt es uns diesmal, denen da oben klar zu machen, dass derProduktionsfaktor Arbeit aus Menschen, aus schlichten Menschen mit Schwächen, Gefühlen und sozialen Bedürfnissen besteht. Und dass genau dies eine andere Orga- und Personalpolitik erfordert, als wir sie in den letzten Jahren zuerst vorgesetzt bekamen und dann noch als der Weisheit letzter Schluß in unseren Sprechstunden zu verkaufen hatten.“
Körner hat Vera bei den letzten Sätzen ungläubig angesehen. Er ist noch ganz in Gedanken, wie er den Kollegen, die jetzt schon warten dürften, ihre Aufgabe klarmachen könnte. Erst allmählich schaltet er um, von seiner Tagespflicht als Abteilungsleiter hin zu Veras strategischen Gedanken. Recht hat sie! Dieser Tag und auch die nächsten werden die Hölle. Da kommt es doch jetzt auf eine Minute und selbst eine Front mehr oder weniger auch nicht mehr an.
„Jetzt, zum aller ersten Mal, braucht Reker uns wirklich! Wenn ich ihn anrufe und sage:“Ich kann aber nicht mit leeren Händen vor die Meute treten“, dann wird er mir sagen: „Diese Malocher haben versucht mich gestern zu erpressen. Glauben Sie ja nicht, dass Sie mit Ihrer Sozialduselei auf die subtile Tour das erreichen, was die niemals schaffen werden!“
„Kann schon sein“, pflichtet ihm Vera bei, „aber du bist in einer besseren Position als unsere Arbeiter. Du kannst mit Fug und Recht beanspruchen, die wahren Interesse des Werkes, sozialen Frieden und Produktivität im Auge zu haben. Lass es uns versuchen! Ich kann das zwar gut sagen, denn du wirst dir im Zweifelsfall die blauen Flecken holen. Aber verlange ein Gespräch mit ihm, face to face; da komme ich gerne als deine Stellvertreterin mit und stecke die Packung mit ein! Wenn wir das machen, Heinz, dann können wir vielleicht auch unsere Kollegen in der Abteilung mitreißen!“
Heinz Körner denkt eine Weile nach. – Wenn wir Reker gegenüber dieses Mal nicht die Schnauze halten! Wenn wir zwar diplomatisach vorgehen, aber doch unmissverständlich klar machen, dass es nur mit der Knute auch nicht mehr weitergeht. Ja dann könnten wir uns auf jeden Fall auch noch morgen im Spiegel reinen Gewissens ins Gesicht sehen, ohne die Scham, eine Gelegenheit, vielleicht die Gelegenheit überhaupt verpasst zu haben.
„Gut!“ bestätigt er.“Wir gehen und legen unsere Strategie auf den Tisch. Erst Telefonat mit Reker. Dem sage ich, ich bräuchte sein Entgegenkommen, noch ganz unverbindlich, um alle unsere Leute hier zu motivieren. Dann gehen wir in die Fabrik und hören uns die Forderungen an, loten den Spielraum aus. Dann melde ich mich wieder bei Reker und bestehe auf unserem Termin, du und Ich, bei ihm. Und da stehen wir dann nicht eher vom Tisch wieder auf, bis wir etwas haben, das wir den Kollegen unten in der Fabrik und unseren Kollegen hier in der Abteilung präsentieren können!“
…
„Guten Tag, Herr Doktor Reker. Vielen Dank dafür, mit Ihnen über unsere gemeinsame Strategie reden zu können.
„Heinz Körner hat dabei „gemeinsame“ besonders betont. Vom ersten Moment an, als Reker den Vorraum seines Besprechungszimmers betritt und die beiden Abgesandten der Sozialen Dienste wortlos mit einer Armbewegung zum Eintreten auffordert, beobachtet Vera ihn scharf. Selten hatte sie ihren obersten Chef in Paulusburg aus der Nähe gesehen. Hochgewachsen, die Schultern bereits leicht gebeugt, steht er vor ihnen in dunkelgrauem Einreiher mit Weste. Dr. Reker hat ein hageres Gesicht, kurzgeschnittene mittelgraue Haare, Seitenscheitel, dunkelblaue Augen. Die Mundwinkel sind hart gezeichnet, die Gesichtszüge von feinen Falten in der hellen Haut durchzogen. 56 Jahre ist er alt, wie Vera aus dem letzten Geschäftsbericht der IG weiß.
Ein harter Brocken, denkt sich Vera. Der wird nicht beim ersten Anlauf umfallen. Da habe ich Heinz vielleicht etwas blauäugig den Rat gegeben, aus der Not eine Tugend, eine Chance zu machen und zu fordern. Aber viel mehr als unbeliebt machen können wir uns auch nicht. Vor zwei Jahren erzählte Heinz mal vom Jahresempfang der Direktion, Maßnahme zur Pflege der Werksgemeinschaft. Da standen die Werks- und Abteilungsleiter in der langen Schlange, um Reker die Hand zu schütteln und noch einen meist belanglosen Satz auszutauschen. Reker hatte Heinz damals gefragt, wo er denn herkäme; er könne sich wohl an das Gesicht erinnern, aber ihm fiele im Moment nicht der Betrieb ein. „Abteilung Soziale Dienste“, hatte Heinz geantwortet. Reker stellte darauf die Frage, wie viele Mitarbeiter er habe.
„Neun Psychologen und Sozialarbeiter, dazu drei Sekretärinnen“, war Heinz Körners Antwort.“Welche Rendite erwirtschaften Sie mit Ihren Leuten?“, kam es von Reker wie aus der Pistole geschossen.
Heinz hatte Vera berichtet, so etwas, so eine unverschämte Frage nie ausgeschlossen zu haben. Dennoch musste er schlucken. Dann habe er fast ruhig geantwortet.
„Ein Alkoholiker kostet die IG und die Betriebskrankenkasse über die Jahre im Schnitt 70.000 Euro-Mark, ein Tag Produktionsausfall im Werk III dürfte vier bis fünf Millionen kosten. Ich glaube, Herr Dr. Reker, wir Sozialen stehen da gar nicht so schlecht da mit unserer Rentabilität. Und weil wir die auch nicht dauernd versuchen zu berechnen, sondern statt dessen unsere eigentliche Arbeit machen, arbeiten wir noch produktiver. Da würden sich sogar noch ein bis zwei Neueinstellungen lohnen!“
Für einen Augenblick habe Reker ihn giftig angesehen, aber sofort wieder die Fassung zurück gewonnen, seine freundliche Miene aufgesetzt.
„Sie haben die richtige, engagierte Einstellung zu Ihrem Job, Herr Körner. Ich zweifele kein bisschen daran, dass Ihr Job für die Werksgemeinschaft genau so wichtig ist wie der jedes Betriebsleiters aus der Produktion.“
Auf diese Antwort war Körner nicht vorbereitet und hatte sich einfach weiterschieben lassen, um dem nächsten Wartenden Platz zu machen.