Im 21. Jahrhundert – Den Frieden verspielt (Band 1) Textauszug

1. Ludwig Fischer

Ich bin Ludwig Fischer. Ich bin in Chieming am Chiemsee in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2000 der christlichen Zeitrechnung geboren. Schon im Alter von zwei Jahren verzog meine Familie in die bayerische Landeshauptstadt München. Dort wuchs ich auf, ging dort zur Schule und nahm dort im Jahr 2018 mein Studium an der Maximilians-Universität auf. Ich durchlebte eine glückliche Kindheit mit zahlreichen Aufenthalten an Wochenenden und in den Ferien im Haus meiner Großeltern am Fuße des Chiemsees. Die Eltern meiner Mutter führten damals einen kleinen Bauernhof mit Milchwirtschaft und eine kleine Pension mit zwei Ferienwohnungen. Von diesen bewohnten meine Eltern, ich und mein drei Jahre jüngerer Bruder häufig eine. Manchmal war das von langer Hand geplant, manchmal aber auch rief meine Oma in München an und fragte ihre Tochter:

Habt ihr nicht Lust, am Freitag mit den Kindern nach Hause zu kommen? Wir haben Platz im Haus. Das Wetter soll schön werden. Wir könnten grillen oder ihr sucht euch etwas anderes aus. Es wäre doch schön, wieder zusammen ein Wochenende zu verbringen!

An diese Wochenenden, oder auch an viele Sommerferien, in denen die Familie gar keine weiten Reisen unternahm, sondern nur die knappen 100 Kilometer zum bayerischen Meer – so nennen die Oberbayern den Chiemsee, den größten See des Landes – erinnere ich mich gut, und vor allem so gerne. Meine Kindheit, das sind mehr als alles andere die Bilder im Kopf vom Spielen auf der Wiese und vom Klettern auf die Obstbäume am Hof meiner Großeltern. Als wir dann vielleicht gerade um die zehn Jahre alt waren, wurde der Horizont meines Bruders und von mir viel weiter. Wir gingen zum Seeufer im Dorf. Dort liegt das große Mütter-Erholungsheim. In Wirklichkeit wohnen dort in den Ferien ganze Familien oder Alleinerziehende mit ihren Kindern. Nirgends am Chiemsee kann man als Junge im Sommer so klasse Fußball spielen wie auf der großen Wiese, die zwischen dem Heim und dem See liegt. Denn nirgends sind im Sommer so viele Kinder, die denselben Wunsch verspüren, dort am Nachmittag mit all den Gleichgesinnten, die sich dort zufällig treffen, einfach zu bolzen und ihren Spaß zu haben. Oma uns Opa steckten uns Jungen immer ein paar Euro zu, mit denen wir uns im benachbarten See-Imbiss ein Eis kaufen konnten. Es war herrlich.

Als ich zwölf wurde, erlaubte mir mein Vater, mit ihm gemeinsam mit dem Fahrrad um den ganzen Chiemsee zu fahren, das waren 62 Kilometer! Mensch, war ich anschließend geschafft. Das wiederholten wir an schönen Sommertagen und in den Jahren darauf machte ich mich auf eigene Faust auf den Weg. Ich fühlte die Anstrengung in den Oberschenkeln. Und wenn mir der Schweiß über die Stirn rann bei diesen Touren fühlte ich das Erlebnis der Freiheit, die es bedeutete, ganz allein die weite Fahrt unternehmen zu dürfen. – Noch als junger Mann zehn Jahre später war es ein geliebtes Ritual für mich, morgens früh oft schon vor sechs Uhr aufzustehen und diese Fahrt immer wieder zu machen. Die Radtour um den Chiemsee bedeutete für mich Sport und Natur, Freiheit und Heimat – und, ja auch Glück!

In München ging ich zur Grundschule, zum Gymnasium, war im Fußballverein und lernet ein wenig Klavier an der städtischen Musikschule. München, das sind für mich das Deutsche Museum, der englische Garten und dann die Allianz-Arena. Die Leidenschaft meines Vaters für die Löwen, also für den Drittligaverein 1860 München, die teilte ich nie, auch wenn ich es genoss, auch hin und wieder zu dessen Spielen zu gehen. Aber ich war Fan des FC Bayern! Wir spielten immer um die Deutsche Meisterschaft, um den Sieg im DFB-Pokal und um die Champions League. Die Karten waren natürlich teuer und überdies schwer zu bekommen, so dass ich wohl selten mehr als ein Mal pro Saison mit meinem Vater und meinem Bruder die Bayern im Stadion sah. Aber die Atmosphäre in der Arena mit ihren steilen Rängen war phantastisch! Am liebsten saß ich recht weit oben, nur knapp unter dem Dach. Von dort sah man zwar nicht die Details der Spielzüge auf dem Rasen, dafür aber erlebten wir dort die unglaubliche Stimmung, die Begeisterung bei Toren und Siegen, das Zittern bei knappen Spielausgängen, hautnah inmitten Gleichgesinnter, die zu einer großen Familie wurden. Mit den Sitznachbarn im Stadion debattierten wir wie mit alten Bekannten, wie mit den besten Freunden. – Die Freunde und die Emotionen in der Allianz-Arena, das werde ich nie vergessen.

Mit 18 Jahren legte ich mein Abitur ab. Ich war bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr wohl eher ein mäßiger, durchschnittlicher Schüler. Danach entwickelten sich meine Leidenschaften für die Gesellschaftswissenschaften. In Geschichte, Sozialwissenschaften und Geografie zählte ich fortan zu den Besten. Englisch und Chemie bereiteten mir ebenfalls Freude und weckten meinen Ehrgeiz. Das genügte für ein gutes Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,4. Doch den brauchte ich gar nicht für das Studium, das ich mir schon ein Jahr vor dem Abitur vorgenommen hatte: Im Oktober 2018 nahm ich an der Maximilians-Universität in München das Masterstudium der Geschichte, der Politik und der Volkswirtschaft auf. Nach dem Bachelor-Abschluss wechselte ich 2020 an die Universität Wien, um mein Studium fortzusetzen. Dort blieb ich bis zum Master-Examen. Das war zunächst nicht geplant. Doch meine Eltern unterstützten mich finanziell gerne, ich lebte sparsam und verdiente noch ein paar Euro als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte dazu.

Die drei Jahre in Wien haben mich geprägt, verändert. Ich wurde selbstständig, gewann das Selbstbewusstsein, nach dem Master promovieren zu wollen. Ich lernte aber bei aller Begeisterung für meine Studienfächer Wien und die Österreicher kennen und schätzen. Als Historiker fragte ich mich sehr bald, was die Österreicher eigentlich weniger zu Deutschen machten als uns Bayern. Als ich Wien 2023 wieder verließ, um nach München zurückzukehren, hatte ich die Gewissheit gewonnen, dass die Antwort auf meine Frage zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Alpenvölker für mich sehr persönlich ganz einfach ausfiel:

Nichts! Nichts unterschied uns Bayern und die Österreicher voneinander als der Zufall des Schicksals, das 1866 seinen Lauf nahm. Damals musste das Habsburgerreich aus dem Deutschen Bund ausscheiden, weil der Sieg Preußens dies verlangte. Fünf Jahre später wusste die Welt endgültig, warum Bismarck so verfuhr. Um Preußens Macht in Deutschland zum Maximum zu steigern und um zugleich das Gleichgewicht der europäischen Großmächte zu erhalten, bildete das kleindeutsche Kaiserreich die optimale Lösung. 1866 und 1871 aber hatten die Herzen der Menschen nicht verändert. Die Österreicher fühlten sich weiter als Deutsche. Das bewies Franz Kafka in seinem Roman Amerika, als der aus Prag stammende Protagonist sich in der neuen Welt als Deutscher bezeichnete. Das zeigten die Österreicher am Ende des Ersten Weltkrieges, als sie ihren neuen Kleinstaat Deutsch-Österreich nennen und sogleich mit dem Deutschen Reich zu vereinigen trachteten. Doch das verwehrten ihnen die Sieger im Vertrag von Saint-Germain. Im Lichte des Jahres 1918 begriff ich plötzlich, was eigentlich am 13. März 1938 geschehen war, als Adolf Hitler in Passau ein offenes Mercedes-Cabriolet bestieg und quer durch Österreich bis nach Wien vor die Hofburg fuhr, um dort den “Anschluss seiner Heimat Österreich an das Deutsche Reich” zu verkünden. Über 98 % der Österreicher stellten ihre nationale Identität über ihre verfassungspolitische Beurteilung, ob die nationalsozialistische Diktatur der Staat war, in dem sie lieber zu leben gedachten als in dem autoritären Alpen-Republikchen des reichlich ungeliebten Kanzlers Schuschnigg. – Und von hier aus öffnete sich mir der historische Blick auf das Österreich seit 1945.

Die totale Negation der eigenen, kollektiven nationalen Emotionen jenes Jahres 1938 bildete für die deutschen Österreicher eine doppelte Fahrkarte in eine glänzende Zukunft. Es würde ihnen die Chance geboten, ihre staatliche Einheit aus vier Besatzungszonen im komfortablen Status der militärpolitischen Neutralität zu erringen. Es wurde ihnen aber vor allem die einmalige kollektive, mentale, sozialpsychologische Aussicht eröffnet, der Verantwortung für den fürchterlichen Abgrund der europäischen Geschichte zu entkommen, den die Herrschaft Hitler-Deutschlands, den seine Verbrechen an politischen Gegnern, an fremden Völkern und Armeen, dann aber gerade am europäischen Judentum bedeuteten.

Meine Reflexionen zu Deutschland und Österreich fesselten mich. Sie führten mir schlagartig vor Augen, welche Kraft den Emotionen, den Kulturen, der kollektiven Psyche ganzer Völker – oder eben einer Bevölkerungsgruppe, die sich urplötzlich als eigenes, kleines Volk definierte, um ihren weiß Gott verständlichen Nutzen daraus zu schlagen – zufiel. Zurück in München ließen mich meine Betrachtungen über Österreich nicht mehr los. Sie bestärkten mich darin, ein Berufsfeld anzustreben, das mit Politik und Geschichte verwoben sein sollte, wenngleich mir zunächst noch gar nicht klar war, worin mein zukünftiger Broterwerb bestehen könnte. Denn die Bedingungen an deutschen und europäischen Universitäten waren seiner Zeit für Jungwissenschaftler der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen keinesfalls rosig. Ich zweifelte, eine Hochschul-“Karriere” mittels einer gerade einmal auf 12 Monate befristeten Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter starten zu sollen. Hingegen formte sich ein anderer Gedanke in vagen, ersten Zügen heraus. Meine Gedanken kreisten um eine wichtige Erkenntnis, die für mein weiteres Leben von enormer Bedeutung zu werden versprach: Die Kraft der Emotionen und der kollektiven Identitäten aus vergangenen Zeiten den Menschen der Gegenwart nahe zu bringen, wurde eine fixe Idee, ein Ansporn, ein Antrieb. Erstmals wog ich ab, ob es das geeignete Instrument darstellen könne, jene Kraft der Emotionen mittels der Kraft der Fiktion zu übermitteln. Ich sann darüber nach, mit den Möglichkeiten der Fiktion nicht allein den Intellekt meiner Zeitgenossen zu erreichen, sondern die Emotion zu berühren darüber, dass die Fiktion einer romanhaften Erzählung konkrete menschliche Akteure zeigen würde. Und mit Menschen konnten sich die Leserrinnen und Leser identifizieren, sich an ihnen reiben, Widerspruch oder Zustimmung fühlen. Jedoch 2023 war ich noch längst nicht so weit. Die Zielsetzung, einen irgend gearteten historisch-politischen Roman zu verfassen, blieb diffus. Und sie blieb deshalb liegen, wurde nicht ausgeführt. Ich investierte meine Zeit und meine Kraft dann doch lieber in mein wissenschaftliches Projekt einer Dissertation. – Doch wir kommen auf die faszinierende Vorstellung von den Möglichkeiten einer Ansprache der Phantasie der Menschen im Roman zu Gunsten historischer Erkenntnis noch zurück.

Zurück an der Universität München hatte ich Glück. Ich fand nicht nur einen Doktor-Vater für mein gewünschtes Thema: Die Entstehung des Kalten Krieges und die Erlangung der österreichischen Souveränität, 1945 – 1949. Der Hauch von großer, internationaler Zeitgeschichte, den mein Thema atmete, verschaffte mir zugleich ein Stipendium Deutschen Gesellschaft für internationale Politik. Mit einem kleinen Nebenjob als Hilfskraft am Lehrstuhl für Neueste Geschichte verbrachte ich vier glückliche, wissenschaftlich erfüllte, arbeitsreiche und dennoch subjektiv mich nicht außerordentlich anstrengende Jahre. Dann wurde meine Dissertation angenommen und ich verließ die Maximilians-Universität als frisch gebackener Doktor der Philosophie. Ich wurde gerade einmal 28 Jahre alt und fühlte, die Welt stand mir offen!

Doch was sollte ich mit meiner frisch erworbenen akademischen Würde anfangen? Im letzten Jahr vor meiner Disputation hatte es nicht an der Bereitschaft gemangelt, zahlreiche Bewerbungen zu schreiben. Die reichten von Hochschulen über öffentliche Verwaltungen und Stiftungen bis zu Unternehmensberatungen und Strategie-Abteilungen namhafter Konzerne. Mein Traum war es, einen Job zu erlangen, wie ihn in den zurückliegenden Jahren manch bedeutende Unternehmen in den USA vermehrt anboten: Nicht mehr allein eine volkswirtschaftliche Abteilung unterhielten diese, sondern auch eine solche für die Beratung und Grundlagenarbeit zu politischen, nicht selten weltpolitischen Themen. Am besten hätte mir die Kombination aus Politik, Zeitgeschichte und Volkswirtschaft als Gegenstände meiner strategischen Beratungstätigkeit für einen seriösen deutschen Konzern gefallen. Immerhin hatte ich all dies studiert! Ich musste die Erfahrung machen, dass mein Ideal ein Mauerblümchen, ein Wolkenkuckucksheim war, das in der Realität deutscher Vorstandsetagen den Sprung über den Atlantik noch gar nicht bewältigt hatte. – Sollte ich deshalb vielleicht besser gleich in die Vereinigten Staaten gehen? Ich grübelte, beriet mich mit Kollegen, Freunden, meinen Eltern. Ich neigte bereits zu der Entscheidung, einen Berg an Bewerbungen mit Hilfe des Internets über den großen Teich zu schicken, als der Zufall mir eine andere Option eröffnete.

Meine Dissertation wurde als wissenschaftliches E-Book von einem sogar respektablen, wenn auch nicht legendären, Verlag publiziert. Meine kleine Stelle an der Uni als wissenschaftliche Hilfskraft setzte ich nach Abschluss der Promotion noch ein halbes Jahr fort. Auf meine Bewerbungen erhielt ich die eine oder andere Reaktion, indem ich an Auswahlgesprächen oder Assessment-Centern teilnahm. Daraufhin standen um den Jahreswechsel 2029 noch einige endgültige Rückmeldungen aus. Und in diesen letzten beiden Wochen vor Weihnachten geschah das völlig Unvermutete. Ein ehemaliger Kommilitone, von dem ich wusste, dass er inzwischen als Mitarbeiter des Vorsitzenden der CSU-Fraktion im bayerischen Landtag arbeitete, verwickelte mich nach einem Vortragsabend über den Eurasischen Handel in einen launigen Disput. Irgendwann fragte er mich zu Selbstvergewisserung, ob ich nicht neben den uns gemeinsamen Fächern Geschichte und Politik Volkswirtschaft studiert hätte. Ich bejahte noch reichlich unbedarft, wollte jedoch schon wissen, warum ihn das interessiere. Die Antwort folgte prompt, gerade heraus ohne höfliches Geplänkel:

“Lieber Ludwig, das Wirtschaftsministerium sucht noch jemanden, der sowohl etwas von Wirtschaft als auch von Politik versteht. Und mit Politik meine ich vor allem die genaue Kenntnis der Verhältnisse in Bayern. Oder anders ausgedrückt: die Kenntnis der Erfolgsfaktoren, die der CSU bis heute über ein dreiviertel Jahrhundert ordentliche

Wahlergebnisse beschert haben.

Ich bin mir eigentlich sicher: Von Volkswirtschaft, von Technologieförderung und vernünftiger Welthandelspolitik, da verstehst du genug. – Ob du aber genug von den inneren Gesetzmäßigkeiten meiner christlich-sozialen Union verstehst, da bin ich im Zweifel. Versuche mich doch einfach zu überzeugen.”

“Und wenn ich das tue, dann willst du ein gutes Wort für mich beim Wirtschaftsminister einlegen?”

“Na ja, fast. Nicht der Wirtschaftsminister, der ist ja schließlich von der FDP. Aber der Staatssekretär für Regionale Wirtschaftspolitik und Technologieförderung, also der wírklich starke Mann im Ministerium, der ist seit jeher, seit der Zeit der absoluten Mehrheiten für die CSU, einer von uns.

Ludwig, zuerst musst du mich überzeugen. Falls du das geschafft haben solltest, besorge ich dir einen Vorstellungstermin unter vier Augen beim Staatssekretär. Und dann geht es endgültig um die Wurst! – also los!”

Dank dieser schonungslosen Offenheit muss ich reichlich perplex aus der Wäsche geschaut haben. Darauf deutete jedenfalls das mitleidige Lächeln hin, mit dem ich meinen Studienkollegen überzog. Aber ich fühlte mich gefordert, und herausgefordert. Ich wollte es Max jetzt zeigen!

“Für die CSU als konservative Volkspartei kann es nur darum gehen, ihren Markenkern zu festigen und sich darüber gegenüber den populistischen Attacken der AfD weiterhin so erfolgreich zu immunisieren wie in den letzten gut zehn Jahren. Und da folgt direkt auf die innere Sicherheit die Wirtschaftskompetenz als das wichtigste Politikfeld. Wir müssen Bayern wie bisher als das erfolgreichste Bundesland präsentieren. Das geht wirtschaftspolitisch nur, indem Hochtechnologie, IT und die Exportschlager Automobilindustrie und Anlagenbau unsere vorrangige Förderung genießen. Die Regionale Wirtschaftspolitik müssen wir dazu nutzen, Kleine und mittlere Unternehmen zu stärken über Risikokapital, wirksame Instrumente gegen den fortschreitenden Fachkräftemangel und Technologienetzwerke, die KMUs noch mehr als bisher mit BMW, MAN und Siemens sowie der angewandten Forschung bei Fraunhofer in produktive Verbindung bringen.

Und, lieber Max, das eine habe ich in meinen Jahren in Österreich gelernt. Auch wenn es bei uns zum Glück keine FPÖ gibt: Der rechte Populismus schreitet auch in der deutschen politischen Kultur bedenklich voran. Die Wirtschaftspolitik ist da ein Feld, das wir uns zu Nutze machen können. Einmal gilt das über gute Wirtschaftsdaten und hervorragende Ranking-Ergebnisse gegenüber den übrigen Bundesländern. Zum zweiten aber können wir auch in der Wirtschaftspolitik Signale setzen und mit medienwirksamen Symbolen arbeiten. Kooperationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft mit öffentlicher Strahlkraft fördern den Stolz der Bayern auf ihr Land, egal, ob sie bei BMW, in der Verwaltung oder auch in der Landwirtschaft arbeiten. Die Identifikation der Bayern mit ihren KMUs ist ebenfalls ein Schlüssel zum Erfolg. Deshalb sollten wir alles, was wir in der Landespolitik machen, von der Bildung bis Verkehrspolitik, als Dienst an der Wirtschaft verkaufen. – so kann und so wird- da bin ich sicher – die CSU auch in Zukunft die Landtagswahlen gewinnen!”

Max sah mich mit leuchtenden Augen an. Er schmunzelte. Ganz bedächtig nickte er mir zu und sagte dann süffisant und leise:

“Nun gut, Ludwig, du hast deinen Termin mit dem Staatssekretär.”

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. So leicht hatte ich es mir nicht vorgestellt, den im Studium zuweilen messianisch auftretenden CSU-Aktivisten Max zu überzeugen, zu überzeugen davon, dass es mir schon gelingen werde, eine wirksame politische Strategie mit der Ansprache der für die bayerische Volkspartei Nummer eins richtigen Zielgruppe zu skizzieren. Aber Max hielt Wort. Zehn Tage später saß ich im tiefen Ledersessel des Staatssekretär-Büros im Münchener Wirtschaftsministerium, als der verantwortliche Beamte des Hauses mit einem strahlenden Lächeln hineingestürzt kam, sich für seine kleine Verspätung entschuldigte und recht undiplomatisch gleich auf unseren gemeinsamen Freund Max verwies. Die Bezeichnung Freund irritierte mich kurzzeitig, bis mir beim zweiten Gedanken klar wurde: Da hat dir Max einen großen Gefallen getan. Denn nur als sein Freund hast du es geschafft, hier in dieses Büro vorgelassen zu werden und einen gewissen Vertrauensvorschuss zu genießen. -Also, Ludwig, sagte ich zu mir, jetzt versau es nicht!

Der Staatssekretär hatte natürlich nicht viel Zeit. Das sagte er auch gleich und forderte mich zu einer knappen Vorstellung meiner Person und meiner Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik auf. Ich erzählte mit maximalem Enthusiasmus im Wesentlichen das Gleiche, das ich zuvor Max ausgebreitet hatte. Doch an einem Punkt weitete ich meine persönlichen Einschätzungen entscheidend aus. Das betraf meine drei Jahre in Österreich. Damals habe ich mit analytisch-politikwissenschaftlicher Faszination die Erfolge der FPÖ studiert. Und diese seien anders geartet gewesen als die Stimmenfänge der AfD in Deutschland: Denn die FPÖ geriere sich im Nachbarland nicht primär als Fundamentalopposition, die mit Law-and-order-Parolen bei frustrierten Kleinbürgern punkte. Die FPÖ trage schließlich in mehreren Bundesländern Regierungsverantwortung, wie in der Steiermark. Es gelinge der FPÖ unglaublich gut, sich als Partei der kleinen Unternehmer zu präsentieren. Und dies erfolge völlig undogmatisch jenseits aller Branchenpolitiken. Ob Tourismus, Landwirtschaft oder IT, die FPÖ der Steiermark bezeichne all diese und viele weitere Branchen als die Fundamente des Wohlstandes. Den kleinen Unternehmern komme dabei die Rolle des persönlich Verantwortlichen, des individuellen Treibers zu, auf dessen Kreativität, auf dessen Riecher für den Markt, auf dessen Bereitschaft zur 70 Stunden-Woche, ja zur Selbstausbeutung es ankomme, um im Interesse aller Bürger erfolgreich zu sein. Und die FPÖ habe Erfolg mit ihrer PR. Nicht allein die Unternehmerschaft, sondern weite Teile der bürgerlichen Mittelschichten pflichteten ihr bei. – für die Wahlerfolge der FPÖ sei dann gar nicht mehr ausschlaggebend, den eigenen wirtschaftspolitischen Anspruch effektiv zu operationalisieren. Stattdessen gehe es vielmehr darum, über Jahre eine stringente, in sich widerspruchsfreie und von großer Kontinuität geprägte Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen. – Wir in Bayern könnten das ebenso gut, aber wir seien obendrein noch weit besser darin, auch in der praktischen Politik die fachlich richtigen Instrumente zu wählen und dafür zu sorgen, dass Bayern in Deutschland das Wirtschaftsland Nummer eins bleibe.

Wir verabschiedeten uns unter Freundlichkeiten. Ich werde von ihm hören, entgegnete der Staatssekretär für mich nichts sagend und verdächtig allgemein. Zwei Wochen später hielt ich einen Brief des Ministeriums, Referat für Personalwirtschaft, in meinen Händen, in welchem mir freudig mitgeteilt wurde, dass mir auf Grundlage des erfolgreichen Personalgesprächs vom besagten Datum im Hause die Planstelle eines wissenschaftlichen Referenten im Referat für Regionale Strukturpolitik angeboten werde. Ich folgte meinem Bedürfnis, zwei Nächte darüber zu schlafen. Dann sagte ich zu, ohne jeden Zweifel daran, dass diese Tätigkeit für die bayerische Landesregierung kaum würde atemberaubend spannend werden können. Doch ich war überzeugt davon, dass mir diese Tätigkeit in der Vita für beinahe jede beliebige nachfolgende Beschäftigung von großem Nutzen sein werde. Außerdem hatte ich durch meine eigenen Statements gegenüber Max und dann gegenüber dem Staatssekretär Blut geleckt. Die Verknüpfung von Nationalökonomie – der Begriff gefiel mir immer schon besser als diejenigen der Volkswirtschaftslehre oder der Makrotheorie – und angewandter politikwissenschaftlicher Arbeit reizte mich und gab mir die Zuversicht, dass es mir gelingen werde, den Gefahren lähmenden, ermüdenden Bürokratismus durch die Faszination der Sache und hinreichende intrinsische Motivation zumindest mittelfristig zu entgehen.

Zwanzig Jahre später arbeitete ich immer noch im Ministerium für Wirtschaft und soundso – die Details änderten sich mit jeder Wahlperiode des Landtags. Inzwischen hatte ich eine mäßige Karriere gemacht, bekleide nach einer Referatsleitung nun seit fast vier Jahren eine Gruppenleitung, die mir durchaus einen für mich selbst spürbaren Einfluss auf Grundzüge der Landeswirtschaftspolitik verschaffte. Der CSU war ich trotz wiederholter Bedrängnis meines Kommilitonen Max, der in Jahren tatsächlich zum Freund geworden war, nicht. Da das Haus in den Koalitionsregierungen der Jahrzehnte entweder an die FDP fiel oder – in schwarz-grün gefärbten Bündnissen – der CSU verblieb, hatte es selbst aus der Warte meiner CSU-Sympathisanten einen Vorzug, parteilos und damit für jede politische Führungsmannschaft von Legislatur zu Legislatur recht vertrauenswürdig zu sein. Manches Mal empfanden Vertreter der wahren bayerischen Volkspartei dabei das gute Gefühl, mich als einen der ihren im Geiste selbst in Zeiten der FDP-Führung betrachten zu dürfen. Ich ließ sie und andere in dem Glauben, sowohl an guter, pragmatischer Wirtschaftspolitik als auch an der Stabilität der landespolitischen Verhältnisse außerordentlich interessiert zu sein. Das war nicht einmal gelogen, höchstens ein wenig geschummelt, was den Impetus des Vortrags anging. Jedenfalls gelang es mir über zwei Jahrzehnte, nahezu jeden Tag wieder gerne zur Arbeit zu gehen, äußerst selten darüber zu sinnieren, dass ich mich ja schließlich auch einmal auf andere Stellen der öffentlichen Verwaltung bewerben könne, und ein alles in allem ausgeglichenes und mäßig erfülltes Berufsleben zu führen. Mäßig mit der Einschränkung, dass während jener zwei Jahrzehnte dann doch irgendwann das Verlangen nach mehr, nach einem et on an geistiger Betätigung und Herausforderung aufkam. Und jenes et on rekurrierte auf das dritte meiner Studienfächer, das ich in meinem Beruf kaum zur Anwendung bringen konnte, die Zeitgeschichte. – In diesem persönlichen geistigen Klima reifte um mein zweiundvierzigstes Lebensjahr der Plan, einen politisch- historischen Roman zu verfassen.

Dass es gleich ein Roman werden sollte, schreckte mich nicht, empfand ich keinesfalls als einen Anflug von Größenwahn. Stattdessen war ich aufgrund meiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen seit der Dissertation davon überzeugt, dass ich so einigermaßen schreiben könne, und das vor allem anderen besser ausführlich als unvollständig knapp. Somit schied die Übung an Kurzgeschichten oder dergleichen aus. Den entscheidenden Anstoß dazu, nach längerem Grübeln irgendwann den etwas schweren Schritt vom Konzipieren zum Verfassen zu gehen, gab das große Thema. Mich trieb die Vorstellung an, mit einem Roman über die Entstehung und die womöglich anderen Optionen des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre einen intellektuell anspruchsvollen und moralisch-politisch wertvollen Beitrag zu einer auch fortan friedlichen internationalen Ordnung leisten zu können. Damit meinte ich seiner Zeit, etwas idealistisch verblendet von einem bildungsbürgerlichen Aufklärungsglauben, die Möglichkeit, über die Anregung des intellektuellen Bewusstseins meiner Leserschaft die Metabotschaft zu vermitteln: Frieden sei immer dann möglich, wenn Pragmatismus und Flexibilität auf die persönliche Fähigkeit der Entscheidungsträger träfen, auch die Interessen des politischen Hauptgegners so ernst zu nehmen, dass daraus eine Fähigkeit zur Antizipation im Rahmen tragfähiger Kompromisse erwachse.

Ich schrieb nur ein knappes Jahr am Manuskript, dann jedoch mehr als zwei Jahren an dessen Überarbeitung. Diese Zeit hatte ich, weil ja zunächst kein Verlag Notiz von meinem Roman nahm und daher eine Veröffentlichung für längere Zeit außerhalb der persönlichen Arbeitsplanung des Schriftstellers lag. Ich verbrachte die Zeit damit, einige wichtige Titel von US-Historikern der so genannten postrevisionistischen Schule über den Kalten Krieg zu lesen. Am meisten beschäftigte mich der Stammvater der Postrevisionisten Daniel Yergin mit seinem Werk Shattered Peace von 1977, das mir bei der zweiten Originallektüre auf Englisch neue Nuancen offenbarte. Es war eine Binsenweisheit, dass Missverständnisse und Vorurteilsbeladene Beurteilungen der Interessen des Gegners zu einer Kette von self-fulfilling prophecies auf beiden Seiten geführt hatten. Doch Yergin lieferte bereits eine Mehrzahl von zwar vagen, nichts desto trotz intelligenten Erklärungsansätzen. Originell war davon weniger der Verweis auf die völlig gegensätzlichen politischen Kulturen als vielmehr die Betrachtung der Key-Player Stalin und Truman mit ihren Biographien, politischen Erfahrungen im eigenen Land und mit den Feinden im soeben bestandenen Weltkrieg. Das hatte für meine Überarbeitung des Manuskriptes eine ganz praktische Konsequenz: Neben die Botschaft Frieden ist möglich! trat mit gleicher Vehemenz die These: Nur die ehrliche, vorbehaltlose Analyse der Interessen und Handlungsspielräume des Gegners versetzt uns in die Lage, die eigenen Erfolgsaussichten realistisch zu beurteilen – und dann zu optimieren. Mein Roman erhielt nun erst einen markanten Subtext. Die Tiefenpsychologie von Staatsmännern und die Sozialpsychologie ganzer Nationen wirkten zusammen. Falls es der erstgenannten gelang, die zweite zu erkennen und zu beeinflussen, tat sich erst der Spielraum für echte Kompromisse mit dem Gegner auf, für Kompromisse, die so überraschend waren, dass sie beiden Seiten die Chance zur Gesichtswahrung eröffneten. Jeder erhielt so den Vorteil, Teile der Übereinkunft – und deren Interpretation – als den eigenen Sieg zu bewerten, zu erklären, innerhalb des eigenen weltpolitischen Ordnungsrahmens im eigenen Land großartig zu verkaufen.

Doch bei allem Nachdenken über die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Perspektiven des Themas – bei 1949 handelte es sich um einen Roman. Also ging es selbstverständlich darum, Spannung zu erzeugen, Überraschendes in einer dramaturgisch aufgebauten Handlung zu bieten, und vor allem den Leserinnen und Lesern das emotionale Angebot zur Identifikation mit vermeintlich realen, fiktiven Menschen zu unterbreiten. Nach langem Grübeln stellte ich eine Person in den Mittelpunkt des Geschehens, die eine reale historische Person war. Es sollte kein Verantwortlicher für die Geschicke der Menschheit aus der ersten Reihe sein. Ein Stalin, ein Truman oder ein Churchill erschienen mir in ihren Persönlichkeiten und realen Handlungen zu vielschichtig, zu sehr die Öffentlichkeit zum Widerspruch aufreizend. Stattdessen wollte ich eine Person finden, die das perfekte Vehikel zum Transport meiner Botschaften bildete, ohne von diesen durch die historische Größe zu sehr abzulenken. – Ich entschied mich für George F. Kennan. Als Verfasser des unter Zeithistorikern berühmten Long Telegram aus dem Jahr 1946 vereinte ein sich historische Faktizität mit enormem Wissen um die weltpolitische Situation nach Kriegsende, aber auch mit einer zumindest für spätere Generationen offenkundigen Einseitigkeit. Genau die beschränkte Sichtweise auf die Dinge machte ihn mir so menschlich. Kennan böte die Chance, der Leserschaft klar zu machen, dass unser aller Schicksal als Menschen in wichtigen und ganz alltäglichen Beurteilungs- und Entscheidungssituationen, in unserem notwendigerweise eingeschränkten Wissen um Fakten und Zusammenhänge, in unserer notwendigerweise subjektiven, ganz individuellen Sicht auf die Dinge bestand. Kennan konnte verdeutlichen, wie sehr wir aus unserer Persönlichkeit, aus unserer Sozialisation, aus unserer gesamten Biografie bin weit ins Erwachsenenalter hinein geprägt wurden und daher immer unter selektiver Wahrnehmung litten. Keinem Menschen konnte es gelingen, alle Aspekte einer komplexen Lebenssituation, einer großen Herausforderung zu erfassen, geschweige denn angemessen abzuwägen und darüber realistisch zu bewerten. Folglich lag im Kern dieser beschränkten Wahrnehmung der Keim für das Thema des Romans selbst begründet: für das Übel des Kalten Krieges als der beherrschenden weltpolitischen Konstante im Zeitalter von 1946 bis 1989.

Das hoffentlich Spannende an meinem Roman, das besondere an der Herausforderung der Fiktion bestand nun gerade darin, dass der Protagonist im Verlaufe der Geschehnisse von seinem Long Telegram 1946 bis zur Manifestation im Jahr 1948 – mit Währungsreform in der westdeutschen Trizone, drohender Berlin-Blockade und ebenso drohender staatlicher Teilung Deutschlands – über Reflexionen zu Erkenntnisse gelangte, wie sie in der realen Geschichte keiner der wichtigen staatlichen Akteure für sich beanspruchen durfte. George Kennan stand also im Mittelpunkt von “1946”. Doch er wurde nicht nur der Erzähler einer Handlung in der Welt der großen Politik. Er war für die Leser wie ein offenes Buch. Kennan legte sein Innerstes mit fortschreitender Romanhandlung wie ein Psychogram offen. Ihm gelang in der Fiktion eben genau das, was uns realen Menschen meistens bestenfalls im Nachhinein möglich wird, nämlich aus dem Wissen um das Ende einer Geschichte die Ursachen jener Entwicklungen und die Wirkungszusammenhänge weit besser zu erkennen und zu begreifen als zuvor, als wir im oftmals undurchschaubaren Strom der Ereignisse stehen, mit und in ihm schwimmen – und nicht selten von ihm mitgerissen werden.

In 1946 fanden zwei Handlungsstränge gleichzeitig statt. Der eine bestand selbstverständlich in der Weltpolitik vornehmlich aus der Perspektive der Vereinigten Staaten, in deren Diensten der legendäre Chefdiplomat des State Department stand. Der zweite aber spielt sich in der Person des Erzählers ab. Selbstgespräche verarbeiteten und förderten zugleich im komplexen Wechselspiel einerseits die Aufarbeitung der eigenen Kindheit und Jugend, andererseits die reflexive Erarbeitung der sehr persönlichen Vorstellungen von der Welt, das Bild Kennans von ihrer politischen, macht- und gesellschaftspolitischen, Struktur. Der Protagonist erkennt zunehmend, wie sehr er Kind seiner Gesellschaftsschicht, seiner Zeit, seines Landes ist. Brutal wird ihm vor dem Spiegel außenpolitischer Aggression der Sowjetunion in 1947 und 1948 bewusst, wie wirkmächtig und vor allem warum in Amerika eine alles andere beherrschende Maxime unter der Losung “Nie wieder München!” sich der politischen Elite zu bemächtigen vermochte. – Auf dieser individual- wie sozialpsychologischen Grundlage gewinnt George Kennan zuerst die Fähigkeit zur Erkenntnis zahlreicher Teufelskreise, selektiver und interessengeleiteter Analysen und Bewertungen seiner Kollegen in Washington und London. Das stählt seine Persönlichkeit, aber erst nach einem gefahrvollen Umweg mit tiefen Selbstzweifeln. Ist es richtig, was er womöglich als einziger erkennt und welche Schlüsse für die Weltpolitik der USA er daraus zu ziehen gewillt ist? Ist er, der in seiner Persönlichkeit seit seiner Kindheit oft zerrissene, sowohl intellektuell und im Selbstbewusstsein starke George als auch der plötzlich zu Lethargie, Depression und Defätismus in Bezug auf die Möglichkeiten eines einzelnen, den Lauf der Welt auch nur ein kleines Millimeterchen zu verrücken, neigende George dazu befähigt, etwas auszurichten?

Da ich, Ludwig Fischer, in meiner Persönlichkeit doch ein wenig mehr Optimist und Gestalter bin als mein Romanheld George, hat 1946 ein Happy End. George F. Kennan gewinnt im Frühjahr 1948 entscheidenden Einfluss auf Präsident Harry S. Truman. In einem nächtlichen Vieraugengespräch, das den Begriff des Seelen-Striptease verdient, offenbart Kennan Truman die Bedingtheiten der Sichtweise des Präsidenten als eines Mannes, der im Westen aufwuchs, der eher Amerika sieht als die Eine Welt Roosevelts, der als Mann des mittleren Westens eben lieber Schwarz-weiß sieht und auf den Tisch schlägt. Anders ausgedrückt hält Kennan Harry einen unschönen Spiegel vor: Amerika ist seit 1947 stark auf dem Weg, in Stalins Imperium nicht mehr eine Großmacht mit Interessen und Bedingtheiten aus seiner Geschichte zu erblicken, die nun einmal von einer ideologisch legitimierten Diktatur beherrscht wird, sondern nur noch das Reich des Bösen. Eine solche Weltsicht aber führe zwangsläufig zur Self-Fulfilling-Prophecy: Amerika werde so seinen Beitrag zur Verschärfung der Konfrontation leisten! Amerika werde so nicht mehr kühl analysieren und steuern können, wann und vor allem womit es den Gegner auf einen Pfad lenke, der seinerseits zu einem fatalen Mechanismus führe: Auch Stalin müsse umgekehrt sich darin zusehends bestärkt fühlen, in Amerika nicht eine Weltmacht mit eigenen, von Moskau abweichenden Interessen zu betrachten, sondern ebenfalls eine ideologisch gesteuerte Gesellschaft, deren missionarischer Eifer zur Ausbreitung von Kapitalismus und ökonomisch motiviertem Imperialismus am Ende jeder Entscheidungskette auf die Schwächung der Sowjetunion abziele.

Dieses Gespräch wurde zur Schlüsselszene des Romans. Erst von hier ab beginnt die Fiktion die große Politik zu beeinflussen. Erst ganz allmählich über den Jahreswechsel 1947/48 spinnen Kennan und Truman einen Plan, vor allem aber ein weltpolitisches Konzept, das friedliche Koexistenz und behutsame Zusammenarbeit für möglich hielt – und erst dadurch möglich machte. Im Rahmen der weiteren Ereignisse und Gespräche scherzen George und Harry einmal unter vier Augen, sie entdeckten gerade die unglaublich unvorstellbare Komplexität unserer Welt. Dadurch seien sie mit einem Mal in der Lage, den großen Intellektuellen Karl Marx zu überragen: Es sei zu wenig zu wissen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein! Denn es gelte vielmehr: Auch das Bewusstsein kann das Sein verändern! – Dafür war die Fiktion von 1946 ein wundervolles Beispiel, und eine ungeheuer hoffnungsvoll stimmende Vision für eine Welt, die gerade ein Jahrhundert später sich alles andere als friedvoll entwickelte. – Ich, Ludwig Fischer, begriff meinerseits im Verlaufe von fast drei Jahren der Überarbeitung meines Romans, dass diese Hoffnung als Subtext das Geheimnis eines möglichen Erfolges werden konnte.

Mit Hilfe dieses Subtextes der Botschaft und eben wohl vor allem auch dank des universal interessanten, begreifenden und handelnden Protagonisten George Kennan gelang es mir plötzlich, einen kleinen süddeutschen Verlag mit anspruchsvollem Belletristik-Programm für mein Buch zu interessieren. Die Story wurde als sensationell gelobt, die sprachliche und dramatische Umsetzung weniger. Ich saß dem Verleger mit weit geöffneten Armen und einem beschämten Lächeln gegenüber, denn er hatte ja recht. Mich traf die Überraschung wie der Schlag, als ich das Angebot zu einer kooperativen Überarbeitung mit einer wirklich guten Literaturwissenschaftlerin als Lektorin erhielt. Der Verlag ging tatsächlich das Risiko ein, in mich als unbekannten Autor Geld zu investieren, und zwar weit mehr als die Druck- und Marketingkosten. So dauerte es bis 2047, bis mein Roman erschien. Die Münchener Lokalpresse widmeten ihm eine Randnotiz, so klein, dass sie schon nicht ausreichte, um bei überregionalen Medien außerhalb meiner Heimatstadt wahrgenommen zu werden. Doch der Verlag gab nicht auf. Er buchte auf der anstehenden Frankfurter Buchmesse für eine eindrucksvolle Summe für eine Stunde die beste Veranstaltungsbühne in derjenigen Halle, welche die großen deutschen Literaturverlage beherbergte. Ich war so nervös vor meinem Auftritt, dass mir beinahe schlecht wurde. Doch ich hatte mich im Griff und zog meine Vorbereitung – Kurzvortrag und kurze Lesung – augenscheinlich ordentlich durch. Im Publikum saßen einige wirklich gute Feuilleton-Redakteure derjenigen Medien, die sich ein junger Autor ersehnte: die Zeit und die Welt, die Frankfurter und der Spiegel waren darunter. Es gab sogleich nachfragen. Die rankten sich allesamt um die vermeintliche oder echte Parallele zwischen der Welt von damals und der Welt von heute. Im kommenden Herbst würde in Amerika wieder ein Präsident gewählt – oder vielleicht doch eher eine Präsidentin? Erstmals würde für die Republikaner eine Frau, Wortführerin der Tea-Party, stock-konservativ und gefährlich populistisch aussichtsreich in die parteiinterne Ausscheidung gehen. Würde die Welt unsicherer und mein Buch eine kleine Lehre für die politische Elite und das denkende Wahlvolk beinhalten.

Auf diese Fragen war ich vorbereitet! Ich sah sie nicht nur voraus, sondern hatte auf sie regelrecht gehofft. Denn tatsächlich bildete der Vergleich zwischen den Gefahren für den Weltfrieden um die Mitte des 21. Jahrhunderts und um die Mitte des 20. Jahrhunderts für mich einen, nein den stärksten antrieb dazu, das Buch zu schreiben und daraufhin in drei harten Jahren Arbeit immer besser zu machen. Meine Botschaft lautete recht einfach:

1945 war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion verschlechterten. Das lag an sehr unterschiedlichen Interessen insbesondere in Mitteleuropa, an völlig verschiedenen politischen Kulturen, an einem vor dem Krieg starken und im Krieg unterschwellig andauernden Misstrauen. Es lag aber sehr deutlich auch daran, dass die Staatschefs und deren zweite Reihe sich vorrangig die Mühe machten, diese Unterschiede herauszuarbeiten. Sie verwandten weit weniger Mühe darauf, in der Agende der Gegenseite nach den Ansatzpunkten zu suchen, die eine Aussicht auf erfolgreiche Kooperation boten. Folglich fanden sie weder Ansatzpunkte noch Instrumente und Köder, um die andere Weltmacht in eine Win-win-Situation zu führen. Also entschieden sich beide Seiten dafür, das vermeintliche geringere Risiko einzugehen und die eigenen Interessen so zu verfolgen, dass man nicht zwingend auf die Kooperationsbereitschaft des jeweils anderen angewiesen war. Das Ergebnis sei bekannt: Abgrenzung, Eindämmung, Abschreckung, Konsolidierung der eigenen Interessensphäre durch die Durchsetzung des eigenen Gesellschaftssystems, hier mit dem Marshall-Plan, dort mit der kommunistischen Machteroberung in der Tschechoslowakei.

Diese ernüchternde und bedenklich stimmende Bestandsaufnahme für 1946 fordere uns dazu auf, nüchtern bis selbstkritisch die Welt von 2047 zu betrachten: Um die Beziehungen zwischen den großen Drei – USA, China, Europa – sei es nicht zum Besten bestellt. Misstrauen herrsche. Betont würden öffentlich mehr die Unterschiede in den politischen Kulten als die Gemeinsamkeiten in wichtigen internationalen Interessenlagen, wie dem Welthandel, der Abrüstung, der Befriedung der der Arabischen Welt, der Eindämmung der Klimakrise und der Förderung der Entwicklung Afrikas. Und werde nun zum Beispiel am 8. November 2048 Pia Gallagher aus dem Bundesstaat Washington am Pazifik zur nächsten US-Präsidentin gewählt werden sollen, so stünde die Welt vielleicht ebenso ratlos da wie zur Zeit des Amtsantritts von Präsident Trump vor 30 Jahren. Man wisse dann vielleicht nicht, was sie wolle, aber man müsse befürchten, dass Isolationismus statt globaler Verantwortung, dass populäre Effekte statt einer Politik des langen Atems obsiegen dürften. – Durch mein Buch über den Beginn des Kalten Krieges wolle ich bewusst machen, wie stark die psychologischen Mechanismen wirken, die eine Konfrontation und Unverständnis beförderten statt trockener Sachlichkeit in der Analyse der nackten Interessen und begrenzten Spielräume des jeweils anderen so lange zu durchforsten, bis man den Schlüssel zur Zusammenarbeit entdeckt habe.

Die anwesenden Journalisten waren nachdenklich, in Teilen aber sogar begeistert. Nachfragen, anerkennende Kommentare beendeten meine Buchpräsentation. Und von nun an brauste der Sturm auf, der mein Leben so vollständig umkrempeln sollte. Es begann mit positiven Rezensionen in renommierten Print- und Online-Medien. Es setzte sich fort mit Fernsehinterviews. Dann lehnte ich es wiederholt ab, in Talk-Shows zu kommen, in denen eine sachorientierte Erörterung nicht im Entferntesten das Anliegen von Teilnehmern geschweige denn der Moderatoren bildeten. Dafür erntete ich selbstverständlich Kritik. Aber von der anderen Seite, von den seriösen, liberal-bürgerlich-intellektuellen Medien kam ein Rückenwind, der mich erstaunte. Er war stark, einhellig und ohne miese Zwischentöne. Plötzlich hatte ich eine Lobby, die von der Zeit bis zum Fokus reichte und von Spiegel-Online bis zu BBC-World. Jawohl! Jetzt begannen sich englischsprachige Medien erstmals für mein Buch und für mich zu interessieren, obwohl “1946” bislang nicht einmal ins Englische übersetzt worden war. Das verlief nun umgekehrt. Medienresonanz verschuf mir binnen weniger Wochen einen respektablen US-Verlag der Random House-Gruppe mit Tochterunternehmen in London. Meinem Anfangserfolg am englischsprachigen Markt stand nunmehr wirklich nichts mehr im Wege.

2048 folgten der Staatspreis der Schweiz für Literatur und hinaufschnellende Verkaufszahlen in den liberalen Hochburgen der amerikanischen Ostküste und in Großbritannien. Es wurde interessant für mich. Denn nun erhielt ich aus ganz Europa und Nordamerika mehr Anfragen nach Veranstaltungsteilnahmen, als ich wahrnehmen konnte. Und mein Marktwert in Honorar gemessen entwickelte sich professionell auf zehntausend Euro im Monat zu, ohne dass ich mehr als einen Termin pro Woche absolvierte. Kurzum, ich war mit mir im Reinen, reiste durch viele schöne europäische Städte, hielt dort Vorträge und Lesungen, debattierte in wissenschaftlichen Runden, reduzierte meine Arbeitszeit auf eine gute halbe Stelle und argwöhnte lediglich, dass zu wenig Zeit für neue Buchprojekte bleibe.

2. Misses Ellen Mae

Doch wie fing das alles an, mein Sprung über den großen Teich? Dafür muss ich mich zurück erinnern an den sonnigen Herbst 2047. Wunderbar war radelte ich wenige Tage nach der Frankfurter Buchmesse durch die Isarauen nördlich meiner geliebten bayerischen Landeshauptstadt, als ich bei einer ausgiebigen Radler- und Zigarettenpause eine knappe Mail las. Eine Mitarbeiterin der Bill-Gates-Stiftung für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt schrieb mir, dass sie meinen Roman 1946 gelesen habe. Das Direktorium der Stiftung habe auf Grundlage ihrer Expertise beraten und sich entschlossen, mir eine Zusammenarbeit zum Zweck der Veröffentlichung von 1946 in den Vereinigten Statten anzubieten. Man sei von der visionären Kraft der Friedensbotschaft tief beeindruckt und fest davon überzeugt, dass noch niemals ein belletristisches Werk erschienen sei, dass den Menschen derart eindringlich und realistisch nahebringen könne, was zur Sicherung des Weltfriedens gerade auch in unserer Zeit in den Herzen und Köpfen der Öffentlichkeit von Nöten sei. 1946 berge die Chance in sich, in Amerika den erneut bedenklich aufkeimenden Geist des Populismus und des Isolationismus zu bannen. – Falls ich mit dem Ziel übereinstimme, meine Botschaft in die tief aufgewühlte Gesellschaft der USA zu tragen, so wünsche man sich die Aufnahme eines Gespräches zur Vorbereitung einer Publikation in Amerika, verbunden mit einer breiten Kampagne zur Einbeziehung der Medien in die Vermittlung eben jener meiner Botschaft.

Ich fühlte mich richtig verstanden, natürlich war ich ebenfalls nicht wenig geschmeichelt. Spontan sandte ich per Smart-Phone die knappe Botschaft zurück, mit den Intentionen der Stiftung im Allgemeinen und in Bezug auf mein Buch im speziellen völlig überein zu stimmen. Ich sei gerne bereit, eine Vertreterin, einen Vertreter das Gates-Stiftung zu empfangen und weitere Aspekte der Zusammenarbeit eingehend zu erörtern. Gegenüber meinem deutschen Verlag bestünden derzeit noch keine Verpflichtungen zur Veröffentlichung im englischsprachigen Ausland. Wir seien somit frei in Entscheidungen zur Auswahl verlegerischer Partner. Als ich sodann am Abend nach einer herrlich ermüdenden, langen Fahrt den Fluss hinaus und wieder nach München zurück mich in der Badewanne entspannt hatte, ging schon eine Antwort ein. Ich wunderte mich über die kurze Reaktionszeit und damit über die Handlungsfähigkeit der Gates-Stiftung, offenbar ohne weitere Gremienberatungen die Zusammenarbeit in die Tat umzusetzen. Mir wurde angekündigt, dass Misses Ellen Mae nach Deutschland reisen und für das Direktorium zu sprechen bevollmächtigt sei. Die Verfasserin der Mail Ellen Mae erläuterte kurz, während eines Studiums in Berlin unsere Sprache erlernt und darüber zur Einführung meines Romans in die Entscheidungsgremien der Stiftung berufen gewesen zu sein. Ich dürfe ihrer Kompetenz in der Sache und in Bezug auf die Geltung ihres Urteils für die Stiftung uneingeschränktes Vertrauen schenken. Nur vier Tage später traf Mrs. Mae am Franz-Josef-Strauß-Airport in München ein. Wir trafen uns bei mir zu Hause. Ich wohnte in einem unscheinbaren Reihenhaus in Garching vor den nördlichen Toren München in einer Siedlung nahe der Isar. Von hier aus brach ich häufig zu entspannenden ebenerdigen Radtouren entlang des Flusses in das nur 16 Kilometer entfernte Freising und darüber hinaus nach Nordosten auf. In die Gegenrichtung erreichte ich mein Büro im Wirtschaftsministerium an schönen Tagen ohne weiter entfernte Außentermine ebenfalls gerne per Rad.

Als ich nach einem selbstbewusst langen Klingeln die Haustüre öffnete, blickte ich in das strahlende, sympathische Gesicht einer ausgesprochen attraktiven Enddreißigerin. Ich hatte mir zwar auf der Homepage der Gates-Foundation gründlich die Ziele und Programme ergoogelt, es jedoch versäumt, nach Personen zu recherchieren. Das lag wohl auch daran, dass ich nicht die Erwartung hegte, eine Projekt-Managerin, und als solche hatte sie ihre Mails gezeichnet, aufzufinden. So kam es, dass ich gar keine Vorstellung von der Dame hatte, die mir in München gegenübertreten würde. In meinem Unterbewusstsein musste sich offenkundig ein Fehlschluss ereignet haben: Wer in den USA Deutsch studiert, nach Berlin zum Studium kommt und zurück in New York außerhalb der dienstlichen Aufgaben einen 600 Seiten Roman las und anschließend für dessen Platzierung in Amerika warb, bei derjenigen müsse es sich um eine Workoholic handeln. Und eine wissenschaftlich und friedenspolitisch getriebene Workoholic wiederum könne wohl kaum den Auftritt, die Eigenschaften und Handlungsweisen einer solchen Klassefrau haben.

Während ich Ellen Mae freundlich anlächelte, schossen mir all diese Schlussfolgerungen in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf. Ich hatte Glück und brauchte auch gar nicht gleich die Initiative des Gastgebers zu ergreifen. Ellen Mae hielt ein wenig verschämt ihre Arbeitstasche mit Notebook in beiden Händen vor ihre Hüfte und wedelte damit unmerklich. Vor allem begann sie sogleich zu sprechen:

“Es ist mir ein großes Vergnügen und eine Ehre, sie persönlich kennen lernen zu dürfen. Vielen Dank, dass Sie sich so kurzfristig Zeit nehmen, um mich zu empfangen. Sie müssen doch nach dem Erfolg der Buchmesse in Frankfurt unzählbar viele Terminanfragen vorliegen haben! Mein Dank verbindet sich mit der festen Gewissheit, dass die Bill-Gates-Foundation ihnen eine attraktive Zusammenarbeit anbieten kann.”

Spätestens an dieser Stelle drängt sich eine zentrale Frage des Lebens auf: Wie hielt es Ludwig Fischer eigentlich mit den Frauen? Ich war unverheiratet – und seit einer langen Reihe von Jahren ohne feste Beziehung. Meine Einstellung, mein emotionaler Haushalt gegenüber Frauen hatte sich im Laufe meines inzwischen 47 Jahre währenden Lebens grundlegend verändert. In meiner Jugend gab es die eine oder andere Liebelei und bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr lediglich eine über ein halbes Jahr dauernde Beziehung. Das bedeutete aber keineswegs, dass ich nicht wie ein typischer Teenager gelitten, mich nach Mädchen verzehrt und manches Mal an nichts anderes gedacht hätte. Nur war ich kein Draufgänger. Es fiel mir im Alltag nicht schwer, mit Mädchen unbeschwert umzugehen, die mir sympathisch waren. Das galt sogar noch, wenn ich m ich verknallt hatte. Wenn aber der Entschluss hinzutrat, jetzt etwas unternehmen zu müssen, der Dame meines Herzens unmissverständliche Signale der Zuneigung zuzusenden, dann wurde ich all zu oft unbeholfen und ungeschickt. So kam es, dass sich bis zum Abitur mehr Herzenswünsche nicht erfüllten als erwidert zu werden.

Mit der Aufnahme meines Studiums änderte sich mein Gefühlshaushalt radikal. Ich lernte gleich im ersten Semester eine Kommilitonin des Faches Volkswirtschaft kennen, die mich wortwörtlich umhaute. Denn bei der ersten Begegnung wurde mir tatsächlich schwindelig. Sie hieß Cornelia, war groß und schlank und hatte schulterlanges dunkles Haar, das sich um ein schmales, sehr hübsches Gesicht legte, in dem wiederum große, dunkelbraune Augen funkelten. Cornelia war eine Ausgeburt an Selbstbewusstsein und Agilität. Sie war ebenso intelligent wie von ihrem Studienfach beseelt, das sie für den Master studierte und nicht wie ich im Nebenfach. Wir begegneten uns im Proseminar und ich war absolut davon überzeugt, dass ich ihr nicht einmal als beachtenswertes Exemplar der Gattung Mann aufgefallen war. Aufgefallen war ich indes einer quirligen rothaarigen Erfurterin, die sich durch ungebremste Wortschwalle ebenso auszeichnete wie dadurch, dass sie sich an meine Fersen heftete, sich seit der zweiten Sitzung neben mich setzte – und mir ein wenig auf die Nerven ging. Es entflammten in mir keine Gefühle für die rothaarige Thüringerin, doch sie war abgesehen von ihrer Redewut nicht unsympathisch, und so verhielt ich mich höflich. Allerdings beinhaltete meine Höflichkeit eine gewisse Reserviertheit, weil ich keine Anstalten machte, mich über unser Proseminar hinaus mit ihr zu verabreden. Das galt jedoch nicht umgekehrt. Und so standen wir eines Abends nach dem Seminar im Ausgang des Hörsaalgebäudes, als zwei Dinge sich gleichzeitig ereigneten: Die Rothaarige lud mich zu einer Party ein und Cornelia ging an uns vorbei und sah mir stechend lange in die Augen. Mir wurde schlagartig heiß und der Puls raste. Meine Verwirrung legte sich mit eiserner Selbstdisziplin schnell und ich gab der Rothaarigen einen formvollendeten Korb. Meine Mutter feiere den fünfzigsten Geburtstag ganz groß und ich könne da nicht fehlen. Ich empfand den Drang, schnell von der Rothaarigen los zu kommen, um mich nicht in Rechtfertigungszwang zu begeben, verabschiedete mich hastig, schwang mich eilig auf mein Fahrrad und steuerte den Heimweg Richtung Schwabing an. Nach zweihundert Metern erreichte ich von einer Seitenstraße die Leopoldstraße. An der roten Fußgängerampel stand Cornelia. Sie blickte nicht auf die Ampel, sondern mit verschränkten Armen zu mir. Ihr Lächeln war eine einzige Herausforderung.

“Na Ludwig, da wartet ja wohl eine ereignisreiche Fete auf dich, und vielleicht eine noch ereignisreichere Nacht!”

Ich war überrumpelt, empfand Cornelias Worte als eine einzige unverschämte Provokation und fragte mich, was soll das, warum sagt sie so etwas?

“Ich habe nicht zugesagt. Nein, mehr als das. Ich habe abgesagt, und das auch noch mit einer nicht ganz stichhaltigen Entschuldigung. – Aber warum sage ich dir das eigentlich? Was geht dich das überhaupt an?

Jetzt hatte ich wohl eine Provokation begangen. Cornelias Augen glühten. Doch ihre Gesichtszüge entspannten sich sofort und verwandelten sich in ein sanftes, vielleicht sogar triumphales Lächeln, das ausdrückte: Er ist mir auf den Leim gegangen und hat offenbart, dass ich ihn reizen kann. Also bin ich ihm nicht egal!

“Ludwig Fischer, du ignoranter Spätpubertist! Es geht mich verdammt noch einmal etwas an, ob du dich von einer anderen rumkriegen lässt! Ich habe mich in dich verknallt bis über beide Ohren und du merkst überhaupt nichts davon, sondern lässt dich von dieser makroökonomischen Stümperin aus dem Thüringer Wald umgarnen.”

Ich machte etwas, das meinen bisherigen Erfahrungen und Aktionsradien in amourösen Angelegenheiten vollkommen widersprach. Während Cornelia redete, hatte ich mein Rad abgestellt. Dann trat ich auf sie zu, mit einem vermutlich starren, hoffentlich entschlossenen Blick in meinen Augen, nahm ihr Gesucht in beide Hände und drückte mit dem letzten Wort ihr einen sanften, nichts desto weniger langen und intensiven Kuss auf die Lippen. Cornelia schloss die Augen, atmete tief ein und aus und drückte mich so feste an sich, dass mir fast die Luft wegblieb.

Von jetzt an und für weit über ein Jahr waren wir ein Paar. Das Ende unserer Beziehung sollte mir den letzten Ruck geben, um mein Studium in Wien statt in München zum Abschluss zu bringen. Cornelia war immer die dynamischere von uns beiden. Intellektuell schenkten wir uns nichts. Über Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte konnten wir stundenlang diskutieren, und zuweilen bereits am Frühstückstisch ereifern. Im Freundes- und Studentenkreis wirkten wir wie eine harmonische Einheit, die von keiner Meinungsverschiedenheit getrübt werde. Sexuell prägte Cornelia die ersten Wochen unserer Beziehung mit täglichem Besitzanspruch. Ich war glücklich, zuweilen erschöpft, und dann ebenso leidenschaftlich auf ihren Körper, ihren Duft, ihre Bewegungen fixiert wie sie.

Und woran scheiterten wir? An der ungestümen Jugend, an Sorglosigkeit, an der Verabsolutierung des Sex gegenüber dem respektvollen Umgang miteinander? Womöglich war es von all dem ein bisschen. Im Nachhinein betrachtet gelangte ich aber zu der Überzeugung, dass etwas anderes den Ausschlag gab. Cornelias bemerkenswertes Selbstbewusstsein, das mancher als Arroganz empfand, erwies sich als Produkt einer sorgenfreien großbürgerlichen Erziehung und Förderung ihrer Neigungen. Cornelia trat gegenüber ihren Eltern stets mit dem Gefühl der Dankbarkeit und mit dem Anspruch auf, nicht wegen ihres geringeren Alters in irgendeiner Weise bevormundet zu werden. Das dokumentierte sich in einer bewussten Lebensplanung. Sie wollten in VWL promovieren und in die volkswirtschaftliche Abteilung eines bedeutenden Unternehmens eintreten, auf keinen Fall das armselige Leben einer Hochschul-Wissenschaftlerin fristen. Und mit der Familienplanung ging es ihr genauso. Sie forderte mir ab, mich auf zehn Jahren gedanklich festzulegen: Master und Promotion bei ihr wie bei mir. Vor dem Doktor heiraten und danach ein Kind. Einzig akzeptable Wohnorte erschienen ihr neben München Frankfurt, Hamburg und Berlin.

Wir waren ein Jahr zusammen und es wurde mir zu eng. Ich fühlte mich von einer Woche auf die andere in meinen alltäglichen Entscheidungen eingeschränkt. Ich wurde übersensibel: Jeden Vorschlag Cornelias begann ich als Dekret zu verstehen, das kein Gegenargument, keinen Widerspruch duldete. Dich ich behielt meine unguten Gefühle lange für mich. Erst als wir unser Eineinhalbjähriges stimmungsvoll mit einem gemeinsam bereiteten vier Gänge Menü gefeiert hatten, offenbarte ich Cornelia die Veränderung meiner Gedanken, Wahrnehmung. Ich beteuerte, das habe nichts mit meinen Gefühlen für sie zu tun, die seien ungebrochen. Sie war sehr verständnisvoll und versuchte mir meine Interpretation ihrer Handlungsweisen auszureden. Und doch war seit jenem Abend alles anders. Es wuchs auf unerklärliche Art und Weise eine Distanz. Wir sprachen ein wenig oberflächlicher miteinander. Nicht mehr jede Sorge und Aufregung des Tages wurde ausgetauscht.  Wir spürten es beide, denn wir trafen uns dann mit einem Mal nicht mehr jeden Tag. 21 Monate nach unserer Begegnung an der Fußgängerampel an der Leopoldstraße sagte mir Cornelia, sie wolle nicht mehr mit einem Mann zusammen sein, der ihre Lebensziele nicht vorbehaltlos teile. Ich nickte stumm und traurig, aber im Innersten sofort davon überzeugt, dass es auf Dauer mit uns nicht mehr gut gehen würde. – Als wir uns dann trennten, ahnte ich nicht, dass meine Zeit mit Cornelia die erfülltest Beziehung meines Lebens für Jahrzehnte gewesen war.

Meine Freundinnen der kommenden gut zwanzig Jahre stellten Versuche dar, eine Beziehung zu führen, die mich nicht spürbar einschränkte oder verpflichtete – vielleicht eine unterbewusste Verarbeitung meiner emotionalen Erfahrung mit meiner ersten wirklich großen Liebe. Zwei Mal verliebte ich mich in den nun folgenden 25 Jahren mit allem, was dazu gehörte: Flugzeuge im Bauch, schlaflose Nächte, sogar deutliche Zeichen an meine Geliebten, wie ernst es mir war. Zuletzt führte mir meine Liebe vor Augen, wie herrlich es war, die Erfahrung zu machen, mit allen Sinnen und allen Sehnen meines Körpers zu lieben. Ich litt und sehnte mich. Und als ich bereits mit dem Verstand erfasste, dass meine Gefühle nicht erwidert wurden, spürte und schätzte ich für eine Weile weiter diesen Höhenflug des Lebens.

Beide Frauen verhielten sich freundlich, jedoch teilten sie meine Liebe nicht. Statt dessen ging ich Beziehungen ein, die mir nicht mehr den Verstand raubten und mich abgrundtief in emotionale Wallung stürzen ließen. Meine Freundinnen waren mir sympathisch. Mitunter mag es mir auch geschmeichelt haben, dass sie um mich warben. Und da ich schon bei meiner ersten tiefen Liebe nicht die bedingungslose Bereitschaft aufgebracht hatte, meine Lebensplanung, meine Autonomie der Stimme meines Herzens unterzuordnen, erwies ich mich bei Frauen, denen ich nicht verfiel, noch weit weniger willens und in der Lage, ein uneigennütziger Partner zu sein. So kam es, dass ich in meinem fünften Lebensjahrzehnt meine Einstellung zum anderen Geschlecht zu ändern begann.

Ich fühlte es in mir. Ich strebte selbst für mich sehr überraschend mit einem Mal gar nicht mehr nach der Anerkennung und der Zuneigung einer Frau. Ich verliebte mich auch seit meinem vierzigsten Lebensjahr nicht mehr so aufwühlend, wie ich es zuvor in meinem Leben immerhin drei beeindruckende Male erlebt, durchlebt hatte. Ich war gerade 44 Jahre alt geworden, als ich während einer meiner Fahrradtouren auf einer sonnigen Bank am Laufe der Isar saß und begriff: Mein Gefühlshaushalt und meine Vernunft gesteuerte Persönlichkeit hatten eine Wandlung erfahren. Womöglich würde ich niemals mehr in meinem Leben einer Frau verfallen sein. Womöglich würde ich nicht einmal mehr abgrundtief, bedingungslos lieben können, selbst wenn mir noch einmal eine Frau begegnete wie jene drei im Alter von 19 bis 38, denen ich verfallen war, auch weil ich es sein wollte, weil mein Herz die Offenheit dafür besaß. Seit jenem Nachmittag auf der Bank am Isarradweg war ich nicht einmal enttäuscht, sondern beinahe abgeklärt neugierig, ob sich meine Vermutung erfüllen würde. – Enttäuscht darüber, dass mir zukünftig etwas Schönes und Wichtiges im Leben verwehrt sein könnte, war ich merkwürdigerweise nicht. Darüber wunderte ich mich zuerst. Doch nach wenigen Monaten wunderte ich mich auch nicht mehr, sondern akzeptierte, dass ich emotional in eine neue Phase meines Lebens getreten war, die mir den schönen Schmerz der Liebe als Lebenselexier verwehren konnte, die mich aber auch vom Schmerz, von Gedanken, vom Sehnen befreite und meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf mich selbst, auf meine Eigenschaften, Pläne und Ziele lenkte. – Ludwig Fischer war ein anderer geworden. Doch ich vermisste nichts, fühlte mich nicht schlecht, sondern anders, freier, eben unbeschwerter und dennoch ganz allein für mein Glück verantwortlich. Als dieser Ludwig Fischer nun auf Ellen Mae traf, ergriff ihn Faszination und Neugierde, aber tatsächlich nicht Liebe auf den ersten Blick.

Ich bat Ellen Mae hinein in mein bescheidenes Reihenhaus am nordöstlichen Rande der Landeshauptstadt. Inzwischen hatte ich meine Fassung und die Sprache wieder gefunden. Ich hieß Elen willkommen, bot ihr Kaffee und Kuchen und einen bequemen Sessel in meinem spärlich möblierten Wohn- und Esszimmer an. Mir saß eine schlanke Frau, fast 1,80 Meter große mit langem, gescheitelten blonden Haar gegenüber. Ihr Gesicht war einnehmend: schmal und schön geschnitten, die Wangenknochen betonten die großen, blauen Augenpartien, die Nase elegant und vielleicht nur ein klein wenig zu lang, um als makellos gelten zu können. Ellens Kinn war klein, die Lippen schmal, ebenso wie der Mund. Ihre Haut hatte eine Glätte und einen natürlich leicht gefärbten Ton, so dass es mir dem Augenschein nach nicht möglich gewesen wäre, ihr Alter zu schätzen. Doch das brauchte ich gar nicht, denn sie hatte mir vorab eine Kurzbiografie zugemailt. Somit wusste ich: Ellen Mae war 38 Jahre alt, hatte ich Yale den Ph.D. in Politik absolviert und arbeitete seit vier Jahren für die Stiftung als “Projekt-Managerin”, was eben alles und nichts bedeuten konnte hinsichtlich der Bedeutung ihrer Aufgaben und auch der Gestaltungsspielräume zu ihrer Tätigkeit. Ellens Kleidung fiel mir sogleich als lässig-elegant auf. Zu einem Gremienmeeting wäre sie sicher im dunklen Anzug oder Kostüm erschienen. Mir gegenüber demonstrierte sie daher wohl eher ungezwungenes Understatement: enge Jeans und weiße, perfekt geschnittene Bluse, laubgrünes Jacket, beige Wildlederpumps. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung von Damenkleidung, mir schwante jedoch, dass Ellen Outfit aus exquisiten New Yorker Boutiquen stammte und schweineteuer war. Sollte mir das etwas sagen? Ich entschied Nein, außer dass man bei der Gates Foundation ordentlich verdiente und der Job bei einer der kapitalstärksten Stiftungen Amerikas mit den entsprechenden hochkarätigen Kunden- und Regierungskontakten dies offenbar erforderte.

Unsere Unterhaltung wuchs in den ersten Minuten nicht über höflichen Smalltalk hinaus. Ich nahm die Bewertung vor: typische amerikanisches Gesellschaftsgebaren, erst einmal mit nichts sagender Freundlichkeit das Gegenüber taxieren und sich den berühmten ersten Eindruck bilden. Mir persönlich ging es durchaus etwas anders. Mein Bedürfnis zielte sofort darauf ab, mit Elen Mae ein inhaltliches Gespräch über den Kalten Krieg, die Welt von heute und meinen Roman zu führen, vor allem anderen jedoch natürlich über ihre persönlichen Einschätzungen dazu. Denn ich hatte das starke Bedürfnis, mir einen ersten Eindruck von der attraktiven Dame aus ihrer Erscheinung und eben aus ihrer Haltung zu bilden.

Ellen Maes Deutsch war tadellos und zugleich mit einem beinahe unmerklichen Ostküstenakzent formuliert. Sie legte kurz dar, dass ihr Deutsch mehr im Studium in Berlin denn an amerikanischen Hochschulen geformt worden sei, dass eine Kurzrezension von “1946” in der Zeit mit ihrer Beilage vor der Buchmesse ihr in die Hände gefallen sei. Sie habe das Buch sofort bestellt. An dem Abend, als es kam vor gut zwei Wochen, nahm sie es zum Feierabend mit nach Hause, um vor dem Fernseher zu entspannen und nur kurz hinein zu blättern. Nach drei Seiten habe sie den Fernseher ausgeschaltet, sich einen deutschen Weißwein aus dem Kühlschrank geholt und weitergelesen. An diesem Abend kam sie erst um ein Uhr nachts in Bett. Da hatte sie bereits 130 Seiten verschlungen und sich gewünscht, am nächsten Tag frei zu haben, um die Nacht durchlesen zu können. Zwei Tage später las Ellen die letzte Seite, legte 1946 auf den Coachtisch und dachte nach. Würde dieser Knaller eines deutschen Autoren auch Amerika begeistern? Spontan keimte ein Zweifel wegen der Intellektualität der historischen und psychologischen Handlung, wegen der distinguierten Sprache und manchmal zu langer Sätze. Aber genau so war sie sicher, dass die intellektuelle Elite der Ostküste von Washington bis Boston und in Kalifornien 1946 verschlingen würden. Am Fuße des letzten Glases rheinhessischen Rieslings aus der Flasche von vorgestern stand ihr Entschluss fest. Schon morgen würde sie zu ihrer Chefin gehen und argumentieren, dass die Foundation mit einer erfolgreichen Platzierung von 1946 in den USA ihr Image ungeheuer aufpolieren könne. Das Gespräch, welches im Türrahmen des Direktoriumsbüros begann, dauerte 95 Minuten. Zwei Tage später trug Ellen das Buch und ihren Vorschlag in der Vorstandssitzung vor. Ihr wurden sensationelle 20 Minuten eingeräumt. Einstimmig fiel das Plazet aus und Ellen wurde beauftragt, die Verlagssituation zu 1946 zu recherchieren, um anschließend mit dem Autor in Kontakt zu treten. – Sie hatte ein neues, sehr spannendes Projekt!

Ich war ein weiteres Mal von meinem Gast beeindruckt. Die Ausführlichkeit und Eindringlichkeit ihrer Schilderung belegten, dass 1946 für Ellen Mae nicht nur ein Job, sondern eine Leidenschaft war. Meine ursprüngliche Absicht, mir behutsam und allmählich ein Bild von der Gates-Projektmanagerin zu machen, spielte plötzlich keine Rolle mehr. Bei Kaffee und Kuchen holte ich weit aus und erläuterte ihr die Geschichte meines Romans von der Entstehungsgeschichte über das Lektorat bis zum Erfolg in Frankfurt. Ungeschützt schilderte ich Ellen meine Mühen bei der Entwicklung des psychologisch komplexen Charakters von George Kennan. Ebenso gab ich zu, an manchen Unzulänglichkeiten meiner Sprache gelitten zu haben und dasselst das Lektorat einen Quantensprung an flüssiger Spannung erbracht habe. Ich war offen wie ein Buch, nicht höflich-diplomatisch-zurückhaltend. So scheute ich schließlich auch nicht die Frage nach Ellens Einschätzung zu den Unterschieden zwischen der Aufnahme durch die deutsche und die amerikanische Leserschaft. – Nach nicht einmal zwei Stunden tiefgründiger sachlicher Diskussion hatte ich ein Vertrauen zu dieser Frau gefasst, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.

Auf meine letzte Frage wurde Ellen Mae still, schlug die Augen auf und es legte sich ein sanftes Lächeln auf ihre Züge.

“Herr Doktor Ludwig Fischer, ein Mann wie sie ist mir in meinem gesamten Leben noch nicht begegnet. Und die Männer ist Amerika sind auch wirklich sehr verschieden von ihnen. Ein US-Bestseller-Autor, oder ein Wissenschaftler oder ein Manager würde sich in einem Gespräch wie diesem als fehlerfreier Superstar präsentieren. Es wäre für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass nur die perfekte Selbstdarstellung die richtige Basis für eine Zusammenarbeit mit unserer Stiftung abgäbe. – Nun habe ich in meinem Studium gelernt, dass deutsche Männer mitunter anders sein können, sich schon einmal nachdenklich und introvertiert verhalten. Doch wie sagt man so schon auf Deutsch: Offen wie ein Buch, bar jeder taktischen Schönfärberei, dabei ein Grundvertrauen und mit entgegenbringend, wie man das gegenüber einer Fremden gewöhnlich nicht tut, das beschämt mich. Ich danke ihnen für das Vertrauen, das sie mir damit schenken. Sie dürfen ganz sicher sein: Ich werde dieses Vertrauen nie enttäuschen!”

Ich war sprachlos. Recht hatte sie. War meine Gesprächsführung nicht allein sehr ungewöhnlich, sondern tatsächlich völlig unangemessen? Brachte ich Ellen Mae damit in eine für sie unangenehme Situation? Ihre Entgegnung ließ anderes vermuten, dennoch war ich peinlich berührt und spürte, die Situation öffnen zu müssen.

“Misses Mae, ich danke ihnen für ihre offenen Worte und für ihre Anerkennung. Sie machen mir gerade klar, dass ich sie wahrscheinlich überrumpele und sogar überfordere mit meiner sicher von ihnen zu Recht als ungewöhnlich bemerkten offenen, selbstkritischen Sprache. Ich danke ihnen für ihr Vertrauen und darf zugleich versichern: Es ist tatsächlich ein großes Vertrauen, das ich zu ihnen empfinde und das meine Schilderungen bestimmt hat. Ich bitte dafür um Entschuldigung.”

Ellen Mae wurde puterrot. So habe sie das doch gar nicht gemeint. Sie wolle alles andere bezwecken, als dass ich von meiner natürlichen und sympathischen Art abließe.

“Jetzt habe ich etwas kaputt gemacht!”

Ich überlegte.

“Nein, Misses Mae, das haben sie nicht. Ich werde versuchen ihnen das zu beweisen und nicht plötzlich ein zugeknöpftes Gespräch mit ihnen führen.”

Wir lachten beide. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus und zum Beweis meiner Glaubwürdigkeit, aber mindestens ebenso aus echter Sympathie, bot ich ihr das Du an, falls sie dies mit ihrem offiziellen Auftrag in Einklang bringen könne. Ohne zu zögern und vielleicht gar erleichtert nahm Ellen an. – Dieser Tag war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Den Abend bekochte ich uns mit einem einfachen italienischen Gemüse- und Pastagericht. Als sei es der Beleg für das gegenseitig bekundete Vertrauen unterhielten wir uns nicht mehr über “1946”. Wir erzählten uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten. Die Kindheit und die Eltern, der Chiemsee und bei Ellen das Wochenendhaus ihrer Eltern vor den Toren New Yorks auf Sten Island kamen darin vor, Freundschaften und Studienerfahrungen, Hobbys und Leidenschaften. Ich erzählte kurz von Cornelia, meiner ersten großen Liebe. Dabei sah sie mich forschend an.

“Hast du seitdem jemals wieder so intensiv geliebt?”

Das empfand ich als reichlich intim. Aber ich hatte eine solche Frage natürlich durch meine Erzählung provoziert, zumindest erst möglich gemacht. Ich verneinte und fragte behutsam, ob sie in einer glücklichen Beziehung sei.

“Ich war das einmal, vor etlichen Jahren. Ich habe den Mann sogar geheiratet, so sehr war ich davon überzeugt, dass er der Partner fürs Leben sein sollte. Doch Richard hat mich nach zwei Jahren betrogen. Ich wollte ihm verzeihen, merkte aber, dass ich das nicht konnte. Dadurch wiederum merkte ich, dass meine große Liebe zu einer ganz normalen Zuneigung vergangen war. Ich trennte mich von ihm.”

Ich nickte verständnisvoll.

“Aber eine Frau wie du, sehr attraktiv, in New York und erfolgreich im Job, der werden mit Sicherheit immer wieder die Männer zu Füßen liegen.”

Ellen lachte laut und ungezwungen auf.

“Du ahnst gar nicht, Ludwig, wie recht du mit deiner Vermutung hast. Doch in den zurückliegenden fünf Jahren habe ich mich nicht mehr bis über beide Ohren verliebt. – Und darunter mache ich es nicht! Ich werde vielleicht nie wieder eine Beziehung zu einem Mann eingehen, für den ich nicht schlaflose Nächte vor Sehnsucht verbracht habe. Doch das macht gar nichts. Ich komme ganz gut alleine aus. So gut, dass ich ganz ehrlich gelassen abwarten kann. Mir geht es gut, wenn ich Freunde gewinne wie heute dich.”

Jetzt war ich es, der einen bohrenden Blick über den Esstisch warf. Ellen spürte das sofort. Doch das schien ihr keineswegs unangenehm.

“Bei einem Mann habe ich das nie erlebt, Ludwig. So von mir erzählen zu können, auch über Gefühle und Zweifel aus meiner Vergangenheit. Das ging bisher nur bei meiner besten Freundin, die ich schon seit der Schulzeit kenne. Darüber bin ich einigermaßen verwirrt, aber zugleich genieße ich es. Darauf musste ich nun etwas sagen.

“Und jetzt erwidere ich dir, was du heute Nachmittag zu mir gesagt hast. Du wirst es nie bereuen! Was unter uns gesprochen ist, bleibt ein freundschaftliches Geheimnis.”

Unergründlich tiefsinnig sah mich Ellen an.

“Dir kann ich das glauben, dir will ich das glauben, Ludwig Fischer.”

Für den nächsten Tag lud ich Ellen zu einer Radtour nach Freising ein. Dort aßen wir auf einer sonnigen Terrasse Pizza. Anschließend lud ich sie in die beste Eisdiele der Region ein. Ellen protestierte ernsthaft dagegen, dass ich die Rechnungen beglich. Schließlich seien das doch für sie Reisespesen gegenüber der Stiftung. Ich wehrte ab und erklärte, es finde sich bestimmt einmal die Gelegenheit, bei der sie sich in New York revanchieren dürfe. Und dort fielen die Gastronomiepreise wohl höher aus.

“Abgemacht!”

Mit diesem Kommentar reichte mir Ellen ihre rechte Hand, um die Abmachung zu besiegeln. Bei unserem stundenlangen Zwischenstopp in Freising sprachen wir wieder über mein Buch. Ellen erläuterte mir, warum der Roman nach ihrer festen Überzeugung gute Aussichten darauf hatte, die gebildeten und weltoffenen Bürger der Ostküste im Nerv zu treffen. Amerika sei seit der Präsidentschaft von Donald Trump vor 30 Jahren immer populistischer geworden. Dies schließe einen affektiven Isolationismus – oder wenigstens die Drohung, das Spiel mit ihm – ein. Was aber den Farmer in Missouri lediglich in seinem Trotz und seinem Spott über den Rest der Welt bestärke, bereite den alten, demokratischen Eliten Amerikas schon lange Sorgen. Der Wahlkampf Pia Gallaghers um die Nominierung für die Präsidentschaft durch die Republikaner schüre aktuell sogar handfeste Ängste. In diesem Amerika werde mein Buch wie eine Mahnung aufgenommen werden können. Die Amerikaner meines Romans seinen Menschen, die sich vom Saulus zum Paulus wandelten, jeder auf seine Art: In Kennan reife die Erkenntnis, welche Rückwirkung unser Handeln auf die sowjetische Staatsspitze um Stalin haben müsse. Truman hingegen verändere sich zunächst wie in der Realhistorie vom Isolationisten zum Präsidenten der Eindämmung, des Nein!, des Nie wieder München! Aber damit mache ich ja nicht halt, sondern mein Truman reife zu einem Präsidenten, dessen Verantwortlichkeit ihren Niederschlag finde in einem Einlassen auf die Komplexität der Welt selbst. Mein Truman setze die für heutige Maßstäbe unvorstellbare Überlegenheit der USA im Jahr 1947 – 45 % der Weltindustrieproduktion und noch Herr des Atomwaffenmonopols – ein, um auf den Gegner mit Angeboten zur kontrollierten Vertrauensbildung zuzugehen.

“Welch ein Signal für die Welt von heute, Ludwig! Denn wir brauchen heute mehr denn jemals zuvor eine US-Regierung, die eine ausgefeilte Gesamtstrategie für ihre Weltpolitik entwickelt und umsetzt, mit einer Partnerschaft auf absoluter Augenhöhe für unsere Freunde in Europa und im Pazifik, mit einer absolut berechenbaren Macht- und Gestaltungspolitik gegenüber jenen großen Mächten, die es von Alleingängen unbedingt abzuhalten gilt, wie China und Russland.”

Ellen Mae hatte nicht nur mein Buch aufmerksam gelesen und verstanden. Sie teilte auch meine Ambitionen, meine Befürchtungen in Bezug auf die Welt und meine Hoffnungen auf die Gedankenanstöße wie die emotionalen Betroffenheiten, die “1946” auslösen sollte. Sie hatte vollständig begriffen, warum ich mein Thema, meine Botschaften mit dem literarischen Mittel des Romans verfolgte und nicht mit einem flüssig lesbaren, essayistischen Sachbuch. Nur der Roman, die Fiktion von realen handelnden Menschen, ihren Stimmungsschwankungen, Zweifeln, Unzulänglichkeiten, ihren Hoffnungen und ihren idealistischen Kraftanstrengungen für die wahrlich große Sache des Weltfriedens, bot die Chance, seine Leserinnen und Leser anzurühren. Und nur was anrührte, vermochte zum Handeln zu bewegen, in öffentlichen Forderungen und in Wahlverhalten. Einen Essay dagegen legte man nach der letzten Seite weg in dem Bewusstsein: Verdammt recht hat der Autor! Aber leider bleibt die Welt doch für alle Zeiten so wie sie schon immer war: eine Ausgeburt der niederen Motive und ein Ort der menschlichen Fehler. Damit müssen wir uns leider dann doch abfinden.

Ich entschloss mich, Ellen diese meine innersten Gedanken und Empfindungen mitzuteilen.

Wir radelten durch das Erdinger Moos rechts der Isar um den Münchener Flughafen zurück nach Garching und verbrachten einen zweiten Abend bei gutem Wein und noch besseren Gesprächen. Mir kam plötzlich der Gedanke, sie in eine exquisite Münchener Gastronomie hätte einladen zu müssen. Als ich das aussprach, schüttelte Ellen den Kopf.

“Was glaubst du, Ludwig, wie häufig ich Geschäftsessen in den Sternerestaurants der Ost- und Westküste verbringe? Doch das alles ist nichts gegen die vertraute, persönliche Atmosphäre und die herrlich unkomplizierte Küche bei dir zu Hause.”

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages flog Ellen Mae von München zurück nach New York. Zuvor hatte sie eine umfangreiche Mail für den Vorstand der Stiftung geschrieben, in welcher sie das Fazit aus unserem tiefschürfenden Gespräch bei Pizza und italienischem Speiseeis ausbreitete. Ich brachte sie zum Flughafen, dankte ihr für die letzten beiden herrlichen Tage und sagte ihr, dass ich schon lange nicht mehr so intensiv gelebt und nachgedacht hätte. Sie lächelte mich an, nahm mich in ihre Arme und drückte sich für einen langen Moment an mich.

“Ludwig, jetzt hast du mir die Show gestohlen!

Ziemlich genau das gleiche wollte ich dir auch sagen.”