Kapitel 1: Erinnerung
Hans fährt den blauen BMW mit 150 Stundenkilometern auf der linken Spur der A 4. Seine Frau neben ihm sagt gerade bestimmt schon zum fünften Mal seitdem sie losgefahren sind, er solle nicht so schnell fahren. Die Sicht sei schließlich bei diesem schmuddeligen, nieseligen Novemberwetter viel zu schlecht zum Rasen. – Ist doch schon Dezember, wenn auch erst der zweite! Wenn auch nur in Gedanken formuliert Hans diesen stillen Protest.
„Du fährst uns alle noch gegen den Baum. Ist doch völlig egal, ob wir nun eine halbe früher oder später ankommen. Jetzt hast du Paula seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Da wird es doch wohl auf diese verdammte halbe Stunde auch nicht mehr ankommen.“
Hans brummt sich ein leises „Ja, ja, ist ja schon gut“, in den Bart, das aber bei den Fahr- und Motorgeräuschen niemand seiner Mitreisenden verstehen kann. Der auf Intervall geschaltete Scheibenwischer legt gerade wieder den Blick auf den grauen Asphalt und die roten Rückleuchten des Vordermannes frei. Hans starrt einfach weiter auf die Fahrbahn. Dabei nimmt er den Fuß leicht vom Gaspedal, so dass der Wagen allmählich langsamer wird. Bei einhundertdreißig wechselt Hans auf die rechte Fahrspur. Das „Endlich“ seiner Frau quittiert er mit einem zornigen Seitenblick, der nur eines zu bedeuten haben mag: Wenn ich dir den Gefallen jetzt schon tue und langsamer werde, dann könntest du dir wenigstens den blöden Kommentar sparen!
Sofort darauf fängt Hans Blick links der Autobahn auf dem übernächsten bewaldeten Hügel einen hellgrauen Betonturm mit Aussichtslattform an seiner Spitze ein. Kein Gedanke mehr an seine Frau. – Endlich, die Zonengrenze! Noch einen Kilometer und ich bin in Thüringen. In der Heimat! Der alten Heimat, um es nicht zu theatralisch zu sagen. Hans Gedanken schweifen weit zurück in die Vergangenheit. So als wäre es gestern gewesen, hat er nun die Bilder vor Augen: Ein junger Mann, beinahe noch einJugendlicher steht dort an der S-Bahn-Station Friedrichstraße. Kurze Hosen hat er an, ein weißes Hemd und darüber einen beigen Pollunder. Nur mit einem Rucksack bepackt besteigt dieser Mann, den er da so genau vor sich sieht, den Zug in Berlin-Mitte, um nach Süden zu fahren. Er setzt sich auf einen Platz am linken Fenster, in Fahrtrichtung. So kann der junge Mann auf die Straßen blicken, die ein Geschoss unter der S-Bahn-Trasse an ihm vorbeirauschen. Kaum hat der Mann noch einmal darüber nachgedacht, was er da eigentlich gerade vorhat, da läuft die S-Bahn nach nur vierzehn Minuten Fahrzeit im Bahnhof Oranienstraße ein.
Hastig, beinahe hektisch, auf jeden Fall aber verwirrt sieht der junge Mann aus dem Fenster. – Oranienstraße, Kreuzberg, West-Berlin. Ich hab es geschafft! Hans kann es noch gar nicht fassen. Es war so leicht! Keine Kontrolle, kein Ausweis, nicht einmal die Fahrkarte wurde verlangt. Energisch greift Hans nach seinem Rucksack auf seinem Schoß und steigt aus der S-Bahn aus. Eilig läuft er die Treppen der S-Bahn-Station hinunter, um unten auf den Bürgersteig der Oranienstraße zu stolpern. Ein grller Sonnenstrahl blendet ihn für einen kurzen Moment. Hans stolpert, fängt sich. Er geht jetzt ganz ruhig ein paar Schritte. Tief atmet er die Luft in seine Lungeflügel.
Aah! Das tut gut! Nun erst denkt Hans an das Wort, das ihn in letzten Wochen immer aufs Neue angetrieben hatte, immer dann, wenn er befürchtete schwach zu werden, von seinen Plänen abzulassen, als seine Mutter und genau so seine Schwester Paula auf ihn einredeten, er solle doch um Himmels Willen bei ihnen bleiben! Das Leben in der DDR werde doch auch von Tag zu Tag besser. – Freiheit! Ja, Hans Berger ist jetzt in der Freiheit, im freien Teil der Stadt, im freien Teil Deutschlands, in der freien Welt. Hans setzt sich auf eine Straßenbank und verfolgt für kurze Zeit den dichten Autoverkehr auf der Oranienstraße, Ecke Yorck-Straße. Dann lehnt er sich ein wenig erschlafft lässig an und lässt den Rücken in sich zusammen sinken. Hans sieht auf seine Armbanduhr. Es ist jetzt 11 Uhr 24, es ist der 14. September 1960.
Auf der Höhe des bereits zweiten Wachturms der DDR-Grenztruppen angelangt sieht Hans zuerst aus dem Fenster, dann aber auf die Uhr an seinem linken Handgelenk, ganz genau so wie damals vor, ja wirklich, vor bald dreißig Jahren. Mit einem Mal empfindet Hans ein befreiendes Gefühl in seiner Brust. Er atmet tief durch. Hans freut sich jetzt, in diesem Augenblick richtig darauf, seine Schwester wiederzusehen, ihre Familie kennenzulernen. Es ist eigentlich das erste Mal, seitdem sie sich zu der Reise nach Thüringen vor zwei Wochen entschieden hatten. Damals, als Hans die Bilder im Fernsehen sah wie die Mauer am Brandenburger Tor fiel, ja da konnte er überhaupt nicht klar denken. Zuerst ging ihm nur eines durch den Kopf:Wie können diese Erz-Leninisten im Politbüro nur so derart bescheuert sein, die Grenze jetzt zu öffnen? Begreifen die denn nicht, dass genau an diesem Tag, jenem 9. November 1989, dem 70. Jahrestag der Revolution, jenem 66. Jahrestag des Hitler-Putsches in München und dann auch noch dem 51. Jahrestag der Reichskristallnacht, unwiderruflich der Damm gebrochen ist, der die ganze DDR überhaupt noch zusammenhielt? Die Menschen würden ihr Schicksal nun so schnell wie möglich in den sicheren Schoß der D-Mark retten. Und kein Ideal, keine Phrasen vom demokratischen Sozialismus, jetzt aber in einer pluralistischen Gesellschaft mit echter parlamentarischer Gewalt, würden den Zug noch stoppen, der auf den Anschluss an die alte BrD hinauslief!
Inzwischen sind die Grenzbefestigungen der Deutschen Demokratischen Republik an dem blauen BMW 525 i vorbeigezogen, als Hans seinen Gedankengang jäh unterbricht. Deine Worte, deine Begrifflichkeiten, das sind die Schubladen des linken Sozialdemokraten! BrD, Anschluss. Mein Gott, genau in diesen Kategorien hast du in den 60er Jahren an der Uni gedacht. Diese Zeiten sind lange, lange vorbei. Und dann hat gerade eben ein neues Zeitalter angebrochen. Hans, gib dir wenigstens Mühe, die Schere im Kopf aus den alten 68er-Tagen wegzupacken! Das muss jetzt endgültig einmal sein! Wie sollst du denn sonst vernünftig mit deiner Schwester über politische Dinge diskutieren? Paula war damals schon ein verdammt schlaues Mädchen. Und ihre Briefe aus den letzten Jahren haben immer wieder gezeigt, dass sie niemals die Hoffnung aufgegeben hat, an den guten Sozialismus, an die Chance zum Wandel zu glauben. Mit Klischees kommen jetzt weder sie noch ich weiter!